Mir gefällt das Wort von der "Gnade der späten
Geburt". Es gemahnt uns daran, dass wir Glück hatten, nicht im Dritten
Reich leben und im Zweiten Weltkrieg kämpfen zu müssen. Dass wir es allein
einer glücklichen Fügung verdanken, in einer weit einfacheren Zeit groß
geworden zu sein, sollte uns zudem davor bewahren, allzu selbstgerecht zu sein.
Statt die Kriegsgeneration leichtfertig zu verurteilen, sollten wir zunächst
einmal versuchen, sie zu verstehen.
Die Lektüre von Memoiren ist hierzu für gewöhnlich ein sehr guter Weg.
Die gerade unter dem Titel „Ein deutsches Leben“ erschienenen Erinnerungen von
Brunhilde Pomsel bilden da keine Ausnahme. Leider beging der Europa Verlag
jedoch den Fehler, die Memoiren von einem Manne kommentieren zu lassen, dem das
Wort von der Gnade der späten Geburt offenbar nichts sagt: Thore D. Hansen
schreibt mit einer Selbstgerechtigkeit, wie man sie allenfalls von Mitgliedern
der „68er Generation“ kennt.
Statt die Leser
einfach selbst urteilen zu lassen, gefällt sich der Autor darin, uns bereits im
Vorwort vor den „Pomsels“ dieser Welt zu warnen: Denn „die Millionen Pomsels,
die stets nur an ihr eigenes Fortkommen, ihre materielle Sicherheit denken und
dabei Ungerechtigkeit in der Gesellschaft billigend in Kauf nehmen“ seien
„gefährlicher als die radikale Stammwählerschaft von extremen Parteien.“ (S.
12)
Um sein
unbestechliches moralisches Urteil und seine ungetrübte politische Weitsicht besser
demonstrieren zu können, lässt sich Thore D. Hansen sogar dazu hinreißen, die
Wahrheit zu verfälschen. Dies beginnt bereits mit der Charakterisierung von
Brunhilde Pomsel, die er zu einer bedeutungsschweren Figur des Dritten Reiches
stilisiert, die sie nie war. So spricht er von ihr als „Goebbels’ Sekretärin“,
die „in den inneren Zirkel der Macht“ vordrang und „einem der größten
Verbrecher der Geschichte so nahe kam wie nur wenige Menschen“. (7)
Nichts von
alledem ist wahr. Die 1911 in Berlin geborene Brunhilde Pomsel war eine ganz
einfache und bescheidene Frau. Nachdem sie bereits als Jugendliche davon
träumte, einmal Sekretärin zu werden, absolvierte sie nach der Schule ein
Volontariat bei einem jüdischen Prokuristen. Dort lernte sie Schreibmaschine
und Stenographie und besuchte abends noch Kurse der Handelsschule.
Mitte 1929 fand
sie eine Anstellung bei einem Nachbarn, dem jüdischen Versicherungsmakler Dr. iur.
Hugo Goldberg. Als ihre Stelle 1932 gekürzt wurde und sie nur noch halbtags
arbeiten durfte, suchte sie nach einer zusätzlichen Verdienstmöglichkeit. Durch
die Vermittlung eines Freundes geriet sie an den Schriftsteller Wulf Bley, der gerade
eine Sekretärin suchte, um ihm bei der Niederschrift seiner Erinnerungen an den
Ersten Weltkrieg zu helfen. Als Bley einige Monate später eine Stelle als
Radiosprecher erhielt, bot er ihn an, sie zum Reichsrundfunk zu holen. Auf
Anraten Bleys trat sie 1933 sicherheitshalber der NSDAP bei.
Der Rundfunk
stand unter Kontrolle des „Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda“.
Als man 1942 dort dringend eine Stenotypistin suchte, wurde sie kurzerhand dorthin
versetzt. Im Propagandaministerium wurde sie nicht etwa „Goebbels’ Sekretärin“,
sondern die Sekretärin von Kurt Frowein, dem damaligen „Reichsfilmdramaturgen“,
der geplante Filmproduktionen zu prüfen hatte.
Goebbels hatte offenbar
die Angewohnheit, reihum eine Sekretärin seines Ministeriums zu einem Essen zu
sich nach Hause und zu einer Veranstaltung der Partei einzuladen. Auf diese
Weise wurde Brunhilde Pomsel von Goebbels einmal in dessen Villa und einmal zu
einer Oper eingeladen.
Um dennoch den
Stab über Brunhilde Pomsel brechen zu können, greift Thore D. Hansen auf den
hinlänglich bekannten, aber schlicht unhaltbaren Vorwurf zurück, dass sie hätte
wissen müssen, „was die Machtübernahme durch Adolf Hitler bedeuten würde.“
(158) Ihre Erklärung: „Wir hatten ja insgesamt keine Ahnung, was da mit Hitler
auf uns zukam“ (29), lässt er nicht
gelten. Seines Erachtens hätte offenbar schon 1933 jeder gewusst, dass Hitler
nichts anderes im Schilde führe, als „die Welt zu erobern und die Juden
auszurotten“.
Davon kann jedoch
überhaupt keine Rede sein. Nicht nur, dass die Wähler von keinem solchen Plan
wussten, auch Hitler selbst hatte keinen solchen Plan besessen. Adolf Hitler
ist 1933 zum Reichskanzler gewählt worden, weil er versprochen hatte, das von
Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit gezeichnete Deutschland wieder zu einer
starken, geachteten und gleichberechtigten Nation zu machen. Und er ist 1938
wieder gewählt worden, weil er tatsächlich sein Wort gehalten hatte.
Wie versprochen,
hatte Hitler den ungerechten und von allen Parteien gehassten Friedensvertrag
von Versailles „Seite um Seite“ zerrissen. Er hatte die Deutschland 1919
gewaltsam entrissenen Provinzen – das Saarland, das Rheinland, das Sudetenland
und das Memelland – „heim ins Reich“ geführt, ohne auch nur einen einzigen
Tropfen Blut zu vergießen.
Vor allem aber
war man ihm für seine sozialpolitischen Maßnahmen dankbar. Hierzu gehörten der
Bau von mehr als zwei Millionen Familienhäusern, die Mietpreisbindung, die
Ehestandsdarlehen, die Einführung des Kindergeldes, die Senkung der Kosten für
den Besuch höherer Schulen, die Erhöhung der Renten, die Verkürzung der Arbeitszeit
und die Verlängerung des Urlaubs.
Wie auch Sebastian
Haffner in seinem Buch „Anmerkungen zu Hitler“ ausführte, waren es diese
außenpolitischen und sozialpolitischen Erfolge, die die Bevölkerung für Hitler
jubeln ließen: „Die durch [Hitlers] Leistungen Bekehrten […] wurden im
allgemeinen keine Nationalsozialisten; aber sie wurden Führergläubige. Und das
waren […] wohl sicher mehr als 90 Prozent aller Deutschen.“
Bereits vor
Jahrzehnten hatte der führende jüdische Holocaustforscher Raul Hilberg auch mit
der Mär aufgeräumt, wonach Hitler von Anfang an den Plan besaß, alle Juden auszurotten:
„1933 wusste niemand, was 1936 geschehen würde; 1936 wusste niemand, was 1939 geschehen
würde; und 1939 wusste niemand, was 1942 geschehen würde. Es gab keinen
vorgefertigten Plan zum Holocaust.“
Brunhilde Pomsel
behauptete, dass sie „alles, was mit den Juden geschah, erst erfahren [habe],
als ich selber aus der Gefangenschaft kam.“ (68) „Dass es Konzentrationslager
gab, das wusste ich seit ewigen Zeiten, aber dass sie Menschen dort vergast und
verbrannt haben – niemals.“ (114) „Das alles war ein Riesenverbrechen, darüber
sind sich nachher alle klar gewesen. Aber damals…“ (112)
Hansen bestreitet
kurzerhand, dass Pomsel nichts vom Holocaust wusste. Mit anderen Worten: Er
bezeichnet sie als eine Lügnerin. Doch damit nicht genug. Schließlich fügt er
sogar noch hinzu: „Und wenn Brunhilde Pomsel tatsächlich ‚nichts gewusst’ haben
sollte, dann nicht, weil sie es nicht hätte wissen können, sondern weil sie es nicht wissen wollte.“ (141)
Zur
Rechtfertigung für diese Unterstellung beruft sich Hansen auf eine Studie, die
er jedoch trotz seines Anmerkungsapparats nicht benennt. Danach sollen anonyme
Umfragen ergeben haben, „dass bis zu 40 Prozent der deutschen Bevölkerung vor
Kriegsende vom Holocaust gewusst hatten.“ (142)
Man kann
natürlich eine nicht genannte Studie schlecht kritisieren. Doch auf eine Zahl
von 40 Prozent wird man allenfalls dann kommen können, wenn man bereits bloße Gerüchte
um Masserschießungen hinter der russischen Front als „Wissen vom Holocaust“
auszugeben sucht. Über Auschwitz, Belzec, Majdanek, Sobibor und Treblinka ist
vor der Befreiung durch die Rote Armee in Deutschland nichts öffentlich bekannt
geworden.
Überhaupt ist es
sowohl moralisch als auch rechtlich abwegig, zu behaupten, dass die Deutschen
„von Mitwissern zu Mittätern“ geworden seien. Eine bloße Mitwisserschaft
begründet noch lange keine Mittäterschaft. Um dies zu sehen, muss man sich nur
einmal die Frage vorlegen, ob es gerechtfertigt wäre, alle Russen für die
Verbrechen Stalins, alle Chinesen für die Verbrechen Maos und alle Kambodschaner
für die Verbrechen Pol Pots verantwortlich zu machen.
Da es nur eine individuelle
und keine kollektive Schuld gibt, hat Brunhilde Pomsel vollkommen recht, wenn
sie jede persönliche Schuld von sich weist: „Diese ewige Frage nach der Schuld
habe ich früh für mich beantwortet. Nein, ich habe keine Schuld.“ (126)
Nicht zu unrecht
macht sie auf die Gegenwart und die derzeitigen Kriege im Nahen Osten
aufmerksam. Hat sich heute wirklich etwas geändert? Haben wir tatsächlich aus
der Geschichte gelernt? 1943 wurde Hans Scholl wegen Hochverrats hingerichtet,
weil er die Bevölkerung über deutsche Kriegsverbrechen aufmerksam zu machen
suchte. Was ist 2010 mit Bradley Manning geschehen, als er die Bevölkerung über
amerikanische Kriegsverbrechen aufmerksam zu machen suchte? Er ist wegen
Hochverrats zu 35 Jahren Haft verurteilt worden! Tagtäglich werden durch
amerikanische Drohnenangriffe nicht nur vermeintliche Terroristen, sondern auch
unschuldige Frauen und Kinder ermordet. Jeder Amerikaner weiß dies. Käme
deswegen jemandem in den Sinn, buchstäblich alle Amerikaner für schuldig zu
erklären?
Thore D. Hansen
ficht dies offenbar nicht an. Im Stile einer Käßmann’schen Sonntagspredigt
schreibt er: „Moralisch betrachtet ist Wegsehen allein schon eine Schuld, denn
Leben heißt immer auch Mitleben.“ (143)
Ich kann vom Kauf
seines Buches nur abraten.
I don't speak German, but I'm here from another Facebook blog post.
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