Montag, 29. Mai 2017

Ein deutsches Leben



Mir gefällt das Wort von der "Gnade der späten Geburt". Es gemahnt uns daran, dass wir Glück hatten, nicht im Dritten Reich leben und im Zweiten Weltkrieg kämpfen zu müssen. Dass wir es allein einer glücklichen Fügung verdanken, in einer weit einfacheren Zeit groß geworden zu sein, sollte uns zudem davor bewahren, allzu selbstgerecht zu sein. Statt die Kriegsgeneration leichtfertig zu verurteilen, sollten wir zunächst einmal versuchen, sie zu verstehen.



Die Lektüre von Memoiren ist hierzu für gewöhnlich ein sehr guter Weg. Die gerade unter dem Titel „Ein deutsches Leben“ erschienenen Erinnerungen von Brunhilde Pomsel bilden da keine Ausnahme. Leider beging der Europa Verlag jedoch den Fehler, die Memoiren von einem Manne kommentieren zu lassen, dem das Wort von der Gnade der späten Geburt offenbar nichts sagt: Thore D. Hansen schreibt mit einer Selbstgerechtigkeit, wie man sie allenfalls von Mitgliedern der „68er Generation“ kennt.   

Statt die Leser einfach selbst urteilen zu lassen, gefällt sich der Autor darin, uns bereits im Vorwort vor den „Pomsels“ dieser Welt zu warnen: Denn „die Millionen Pomsels, die stets nur an ihr eigenes Fortkommen, ihre materielle Sicherheit denken und dabei Ungerechtigkeit in der Gesellschaft billigend in Kauf nehmen“ seien „gefährlicher als die radikale Stammwählerschaft von extremen Parteien.“ (S. 12)

Um sein unbestechliches moralisches Urteil und seine ungetrübte politische Weitsicht besser demonstrieren zu können, lässt sich Thore D. Hansen sogar dazu hinreißen, die Wahrheit zu verfälschen. Dies beginnt bereits mit der Charakterisierung von Brunhilde Pomsel, die er zu einer bedeutungsschweren Figur des Dritten Reiches stilisiert, die sie nie war. So spricht er von ihr als „Goebbels’ Sekretärin“, die „in den inneren Zirkel der Macht“ vordrang und „einem der größten Verbrecher der Geschichte so nahe kam wie nur wenige Menschen“. (7)

Nichts von alledem ist wahr. Die 1911 in Berlin geborene Brunhilde Pomsel war eine ganz einfache und bescheidene Frau. Nachdem sie bereits als Jugendliche davon träumte, einmal Sekretärin zu werden, absolvierte sie nach der Schule ein Volontariat bei einem jüdischen Prokuristen. Dort lernte sie Schreibmaschine und Stenographie und besuchte abends noch Kurse der Handelsschule.

Mitte 1929 fand sie eine Anstellung bei einem Nachbarn, dem jüdischen Versicherungsmakler Dr. iur. Hugo Goldberg. Als ihre Stelle 1932 gekürzt wurde und sie nur noch halbtags arbeiten durfte, suchte sie nach einer zusätzlichen Verdienstmöglichkeit. Durch die Vermittlung eines Freundes geriet sie an den Schriftsteller Wulf Bley, der gerade eine Sekretärin suchte, um ihm bei der Niederschrift seiner Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg zu helfen. Als Bley einige Monate später eine Stelle als Radiosprecher erhielt, bot er ihn an, sie zum Reichsrundfunk zu holen. Auf Anraten Bleys trat sie 1933 sicherheitshalber der NSDAP bei.

Der Rundfunk stand unter Kontrolle des „Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda“. Als man 1942 dort dringend eine Stenotypistin suchte, wurde sie kurzerhand dorthin versetzt. Im Propagandaministerium wurde sie nicht etwa „Goebbels’ Sekretärin“, sondern die Sekretärin von Kurt Frowein, dem damaligen „Reichsfilmdramaturgen“, der geplante Filmproduktionen zu prüfen hatte.

Goebbels hatte offenbar die Angewohnheit, reihum eine Sekretärin seines Ministeriums zu einem Essen zu sich nach Hause und zu einer Veranstaltung der Partei einzuladen. Auf diese Weise wurde Brunhilde Pomsel von Goebbels einmal in dessen Villa und einmal zu einer Oper eingeladen.

Um dennoch den Stab über Brunhilde Pomsel brechen zu können, greift Thore D. Hansen auf den hinlänglich bekannten, aber schlicht unhaltbaren Vorwurf zurück, dass sie hätte wissen müssen, „was die Machtübernahme durch Adolf Hitler bedeuten würde.“ (158) Ihre Erklärung: „Wir hatten ja insgesamt keine Ahnung, was da mit Hitler auf uns zukam“ (29),  lässt er nicht gelten. Seines Erachtens hätte offenbar schon 1933 jeder gewusst, dass Hitler nichts anderes im Schilde führe, als „die Welt zu erobern und die Juden auszurotten“.

Davon kann jedoch überhaupt keine Rede sein. Nicht nur, dass die Wähler von keinem solchen Plan wussten, auch Hitler selbst hatte keinen solchen Plan besessen. Adolf Hitler ist 1933 zum Reichskanzler gewählt worden, weil er versprochen hatte, das von Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit gezeichnete Deutschland wieder zu einer starken, geachteten und gleichberechtigten Nation zu machen. Und er ist 1938 wieder gewählt worden, weil er tatsächlich sein Wort gehalten hatte.

Wie versprochen, hatte Hitler den ungerechten und von allen Parteien gehassten Friedensvertrag von Versailles „Seite um Seite“ zerrissen. Er hatte die Deutschland 1919 gewaltsam entrissenen Provinzen – das Saarland, das Rheinland, das Sudetenland und das Memelland – „heim ins Reich“ geführt, ohne auch nur einen einzigen Tropfen Blut zu vergießen.   

Vor allem aber war man ihm für seine sozialpolitischen Maßnahmen dankbar. Hierzu gehörten der Bau von mehr als zwei Millionen Familienhäusern, die Mietpreisbindung, die Ehestandsdarlehen, die Einführung des Kindergeldes, die Senkung der Kosten für den Besuch höherer Schulen, die Erhöhung der Renten, die Verkürzung der Arbeitszeit und die Verlängerung des Urlaubs.

Wie auch Sebastian Haffner in seinem Buch „Anmerkungen zu Hitler“ ausführte, waren es diese außenpolitischen und sozialpolitischen Erfolge, die die Bevölkerung für Hitler jubeln ließen: „Die durch [Hitlers] Leistungen Bekehrten […] wurden im allgemeinen keine Nationalsozialisten; aber sie wurden Führergläubige. Und das waren […] wohl sicher mehr als 90 Prozent aller Deutschen.“ 

Bereits vor Jahrzehnten hatte der führende jüdische Holocaustforscher Raul Hilberg auch mit der Mär aufgeräumt, wonach Hitler von Anfang an den Plan besaß, alle Juden auszurotten: „1933 wusste niemand, was 1936 geschehen würde; 1936 wusste niemand, was 1939 geschehen würde; und 1939 wusste niemand, was 1942 geschehen würde. Es gab keinen vorgefertigten Plan zum Holocaust.“

Brunhilde Pomsel behauptete, dass sie „alles, was mit den Juden geschah, erst erfahren [habe], als ich selber aus der Gefangenschaft kam.“ (68) „Dass es Konzentrationslager gab, das wusste ich seit ewigen Zeiten, aber dass sie Menschen dort vergast und verbrannt haben – niemals.“ (114) „Das alles war ein Riesenverbrechen, darüber sind sich nachher alle klar gewesen. Aber damals…“ (112)

Hansen bestreitet kurzerhand, dass Pomsel nichts vom Holocaust wusste. Mit anderen Worten: Er bezeichnet sie als eine Lügnerin. Doch damit nicht genug. Schließlich fügt er sogar noch hinzu: „Und wenn Brunhilde Pomsel tatsächlich ‚nichts gewusst’ haben sollte, dann nicht, weil sie es nicht hätte wissen können, sondern weil sie es nicht wissen wollte.“ (141)

Zur Rechtfertigung für diese Unterstellung beruft sich Hansen auf eine Studie, die er jedoch trotz seines Anmerkungsapparats nicht benennt. Danach sollen anonyme Umfragen ergeben haben, „dass bis zu 40 Prozent der deutschen Bevölkerung vor Kriegsende vom Holocaust gewusst hatten.“ (142)

Man kann natürlich eine nicht genannte Studie schlecht kritisieren. Doch auf eine Zahl von 40 Prozent wird man allenfalls dann kommen können, wenn man bereits bloße Gerüchte um Masserschießungen hinter der russischen Front als „Wissen vom Holocaust“ auszugeben sucht. Über Auschwitz, Belzec, Majdanek, Sobibor und Treblinka ist vor der Befreiung durch die Rote Armee in Deutschland nichts öffentlich bekannt geworden.

Überhaupt ist es sowohl moralisch als auch rechtlich abwegig, zu behaupten, dass die Deutschen „von Mitwissern zu Mittätern“ geworden seien. Eine bloße Mitwisserschaft begründet noch lange keine Mittäterschaft. Um dies zu sehen, muss man sich nur einmal die Frage vorlegen, ob es gerechtfertigt wäre, alle Russen für die Verbrechen Stalins, alle Chinesen für die Verbrechen Maos und alle Kambodschaner für die Verbrechen Pol Pots verantwortlich zu machen.

Da es nur eine individuelle und keine kollektive Schuld gibt, hat Brunhilde Pomsel vollkommen recht, wenn sie jede persönliche Schuld von sich weist: „Diese ewige Frage nach der Schuld habe ich früh für mich beantwortet. Nein, ich habe keine Schuld.“ (126)

Nicht zu unrecht macht sie auf die Gegenwart und die derzeitigen Kriege im Nahen Osten aufmerksam. Hat sich heute wirklich etwas geändert? Haben wir tatsächlich aus der Geschichte gelernt? 1943 wurde Hans Scholl wegen Hochverrats hingerichtet, weil er die Bevölkerung über deutsche Kriegsverbrechen aufmerksam zu machen suchte. Was ist 2010 mit Bradley Manning geschehen, als er die Bevölkerung über amerikanische Kriegsverbrechen aufmerksam zu machen suchte? Er ist wegen Hochverrats zu 35 Jahren Haft verurteilt worden! Tagtäglich werden durch amerikanische Drohnenangriffe nicht nur vermeintliche Terroristen, sondern auch unschuldige Frauen und Kinder ermordet. Jeder Amerikaner weiß dies. Käme deswegen jemandem in den Sinn, buchstäblich alle Amerikaner für schuldig zu erklären?

Thore D. Hansen ficht dies offenbar nicht an. Im Stile einer Käßmann’schen Sonntagspredigt schreibt er: „Moralisch betrachtet ist Wegsehen allein schon eine Schuld, denn Leben heißt immer auch Mitleben.“ (143)

Ich kann vom Kauf seines Buches nur abraten.

Samstag, 18. März 2017

Warum hassen sie uns?



Kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 stellte George W. Bush die berühmte Frage: „Warum hassen sie uns?“ Die von ihm selbst gegebene Antwort lautete bekanntlich: „Sie hassen uns wegen unserer Freiheit!“ In diesem Artikel argumentiere ich, dass wir uns einer gefährlichen Illusion hingeben, wenn wir Terror-organisationen wie „Al-Qaida“ und den „IS“ als rein religiöse Fanatiker abtun. Sie hassen uns nicht so sehr wegen unseres Liberalismus, als vielmehr wegen unseres Imperialismus. Der islamistische Terrorismus lässt sich daher auch nur verstehen, wenn wir neben ihrer Religion auch unsere Politik ins Auge fassen.



Nach weit verbreiteter Ansicht befinden sich die Mudschahedin, Al-Qaida und der IS in einem „Dschihad“, einem heiligen Krieg gegen den Westen, der erst beendet sein wird, wenn die Ungläubigen sich zum Islam bekehren, den Gottesstaat anerkennen und sich der Scharia unterwerfen.

Die Scharia gilt als göttliches Gesetz. Sie verlangt die Todesstrafe für die Unzucht, den Ehebruch und den Abfall vom Glauben. Frauen müssen sich den Männern unterwerfen. Ohne die Genehmigung ihres Mannes dürfen sie das Haus nicht verlassen. Und wenn sie vor die Tür treten, müssen sie sich mit Abaya, Niqab oder Burka verhüllen.

Mit den drakonischen Strafen wie der öffentlichen Enthauptung, der Steinigung oder den Peitschenhieben gehen noch die archaischen Sitten der Ehrenmorde, der Kinderehe und der Beschneidung der Genitalien von Mädchen einher.    

Niemand von uns kann sich einen globalen Sieg der Dschihadisten, die Errichtung eines Gottesstaates und die Einführung der Scharia wünschen.

Doch ist dies überhaupt das Ziel der Dschihadisten? Sind die führenden Köpfe der Mudschahedin, von Al-Qaida und des IS tatsächlich rein religiöse Fanatiker, die von einem weltumspannenden Kalifat träumen und jeden Menschen als gottesfürchtigen Anhänger des sunnitischen Islam sehen möchten?

Wir Humanisten, die gegen den unheilvollen Einfluss der Kirchen kämpfen, neigen dazu, die Religion als die Wurzel allen Übels zu betrachten. Auch den Dschihadismus sehen wir so. Diese Sichtweise ist aber entschieden zu eng. Sie blendet die politischen Ursachen aus. Weit wichtiger noch: Sie hindert uns daran, den Dschihadismus zu verstehen und zu bekämpfen.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass Saudi-Arabien, Ägypten und der Iran nicht nur ihre wahhabitischen, sunnitischen und schiitischen Glaubensbrüder in Deutschland unterstützen, sondern auch eine aktive Missionierung betreiben. Diese Bemühungen verdanken sich offenkundig einer vornehmlich religiösen Motivation.

Doch wie man bereits an der 1928 in Ägypten gegründeten Muslimbruderschaft ersehen kann, haben viele islamistische Gruppierungen politische Wurzeln. Unter dem Motto „Gott ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Und der Dschihad ist unser Weg.“ hatte sie sich gegen die britischen Kolonialherrschaft aufgelehnt.

Als die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einmarschierte, um die dortige kommunistische Regierung vor einem drohenden Sturz zu bewahren, strömten bekanntlich Tausende von Mudschahedin aus der ganzen islamischen Welt in Richtung Hindukusch, um die russischen Eindringlinge zu vertreiben. 

Unter dem Tarnnamen „Operation Cylone“ übernahmen die USA die Ausbildung, Bewaffnung und Finanzierung der Mudschahedin. Alles in allem unterstützte das Weiße Haus den Kampf gegen den Kommunismus mit sechs Milliarden Dollar. Neben amerikanischen Waffen erhielten die Mudschahedin auch Waffen aus Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Japan und Israel.

Dies war weder das erste noch das letzte Mal, dass sich die USA der Islamisten bedienten, um einen unliebsamen Gegner zu bekämpfen. In der „Operation Ajax“, in der man 1953 den demokratisch gewählten Präsidenten Irans, Mohammed Mossadegh, stürzte, suchte die CIA ebenfalls gezielt die Unterstützung der Kleriker. Mossadegh war ein Anhänger von Demokratie und Parlamentarismus. Doch das nützte ihm nichts. Als er beschloss, die für die Amerikaner und Briten lukrativen Ölquellen zu verstaatlichen, um die Iraner stärker an den Gewinnen zu beteiligen, musste er gehen.

Die Unterstützung von Islamisten erwies sich kurzfristig als ein Segen, aber langfristig als ein Fluch. Denn letztlich führten das Eingreifen im Iran und in Afghanistan zu Ayatollah Khomeini und zu Osama bin Laden.

1988 rekrutierte sich aus den in Afghanistan kämpfenden Mudschahedin das Terrornetzwerk Al-Qaida. Unter der Führung von Osama bin Laden verübte es weltweit Tausende von Anschlägen, unter anderem in Madrid, in London und in New York.

Osama bin Laden wird gerne als ein religiöser Fanatiker hingestellt. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Wie der frühere CIA-Agent Michael Scheuer berichtet, war Osama bin Laden ein intelligenter, inspirierender, couragierter und charismatischer Führer, der die Anschläge seines Terrornetzwerkes nicht religiös, sondern politisch begründete. 

Sein Feind waren nicht die Ungläubigen, sondern Amerika. Er hasste die Vereinigten Staaten wegen ihrer militärischen Interventionen in Kuwait, in Somalia, im Sudan, in Afghanistan und im Irak. Er hasste die USA wegen ihrer Unterstützung der korrupten Golfmonarchien. Und er hasste die USA wegen ihrer Unterstützung Israels bei der Vertreibung der Palästinenser.

In einer im Jahre 2004 von Al Jazeera ausgestrahlten Videobotschaft erklärte er, dass ihm die Idee für den Anschlag auf die Twin Towers 1982 kam, als er während Israels Bombardierung des Libanon brennende Türme in Beirut sehen musste:

„Das Ereignis, das meine Seele berührte, war Israels Invasion des Libanon, die von den USA unterstützt wurde. Ich konnte die Bilder von toten Frauen und Kindern nie wieder vergessen. Als ich all das Blut der unschuldigen Menschen sah, dämmerte es mir, dass wir die Unterdrücker bestrafen und die Türme in Amerika zerstören müssen, um sie von der Ermordung unserer Frauen und Kinder abzuhalten.“

In dieser Botschaft beantwortete er auch George W. Bush’s rhetorische Frage „Warum hassen sie uns?“ Er sagte: „Wir hassen eure Freiheit nicht. Weshalb verüben wir beispielsweise keine Anschläge auf Schweden? Nein, wir kämpfen, weil wir freie Menschen sind und weil wir uns gegen eure Unterdrückung wehren. Wir werden euch so lange bombardieren, wie ihr uns bombardiert.“

Weshalb sind diese Aussagen weithin unbekannt? Weil es viel bequemer ist, Terroristen als religiöse Fanatiker abzutun, als sich mit ihrer durchaus legitimen Kritik an der amerikanischen Außenpolitik  auseinander zu setzen.

Es ist in diesem Zusammenhang auch mehr als bezeichnend, dass unsere Lückenpresse kaum über Chalid Scheich Mohammeds kürzlich veröffentlichten Brief an Barack Obama berichtete, der am 8. Februar 2017 im Miami Herald erschien. Der Wochenzeitung DIE ZEIT war der 18-seitige Brief des Drahtziehers von „9/11“ gerade einmal 5 Zeilen wert. Man zitierte lediglich, dass er Obama als „Schlange“ und als „Präsidenten der Vereinigten Staaten der Tyrannei“ bezeichnete.

Tatsächlich schrieb er, dass die Amerikaner am 11. September 2001 nur geernet hätten, was sie selbst gesät haben. Es sei schließlich Washington gewesen, das mit dem Terror begonnen habe. Wie Osama bin Laden rechtfertigte auch Chalid Scheich Mohammed die Aggressionen von Al-Qaida mit den Interventionen der USA.

Er machte den Amerikanern ihre „Regime Changes“ im Iran, im Libanon, in Afghanistan, in Kuwait, im Irak, in Libyen und in Syrien zum Vorwurf. Er erinnerte an den von den USA unterstützten Gaza-Krieg von 2014, in dem nach Angaben der UNO 1.814 Menschen ihr Leben verloren, über 70 Prozent davon Zivilisten. Er prangerte die Menschenrechtsverbrechen im Gefängnis von Abu Ghraib an, in denen etwa 100 Häftlinge zu Tode gefoltert wurden. Er gemahnte an die Verhörmethoden von Guantánamo und die Überführung von Häftlingen in ägyptische Folterkammern. Und er verurteilte die amerikanischen und israelischen Drohnenangriffe in Palästina, Afghanistan, Pakistan, Irak, Somalia, Libyen und dem Jemen.

Zum Schluss machte er noch einmal klar, dass es Al-Qaida nur um die Einmischung in islamische Staaten gehe: „Sie können ihre Militärbasen in Japan, Deutschland, Italien und anderen Ländern gerne behalten; doch auf muslimischem Boden werden wir keine amerikanischen Stützpunkte dulden.“

Auch der „Islamische Staat“ verfolgt mehr als nur eine rein religiöse Agenda. Sein erster offizieller Akt war deutlich politischer Natur. Als ihr Anführer, Abu Bakr al-Baghdadi, am 29. Juni 2014 in Mossul ein Kalifat ausrief, bestand seine erste Amtshandlung darin, das Sykes-Picot-Abkommen für null und nichtig zu erklären. Mit diesem am 16. Mai 1916 unterzeichneten Abkommen teilten die Briten und Franzosen große Teile des Osmanischen Reiches unter sich auf. 1916 tobte bekanntlich noch der Erste Weltkrieg. Dies hinderte die Briten und Franzosen jedoch nicht daran, schon einmal Pläne für die Aufteilung ihrer Kriegsbeute zu machen. Mit einem Lineal zogen sie eine künstliche Grenze vom Mittelmeer bis nach Persien. Alles, was oberhalb der Grenze lag, sollte den Franzosen zufallen, und alles, was unterhalb der Grenze lag, sollten die Briten erhalten. Auf diese Weise wurden auf dem Boden des Osmanischen Reiches fünf künstliche Staaten geschaffen: Frankreich erhielt das Mandat über Syrien und den Libanon und die Briten erhielten das Mandat über Palästina, Jordanien und den Irak.

Da die Briten und Franzosen mit der Bekämpfung Deutschlands alle Hände voll zu tun hatten, kamen sie auf die Idee, sich im Kampf gegen das Osmanische Reich der unterdrückten Araber zu bedienen. Sie schickten den in Kairo stationierten Geheimagenten Thomas E. Lawrence – besser bekannt als „Lawrence von Arabien“ – zum Emir von Mekka. Obgleich Lawrence das damals noch geheime Sykes-Picot-Abkommen kannte und wusste, dass die Briten und Franzosen das Osmanische Reich längst unter sich aufgeteilt hatten, versprach er dem Emir doch einen unabhängigen arabischen Staat, wenn er sich mit seinen Kriegern am Kampf gegen die Osmanen beteiligen würde. Als der Erste Weltkrieg 1918 erfolgreich beendet wurde, wollten die Briten und Franzosen plötzlich nichts mehr von einem unabhängigen arabischen Staat wissen. Die Araber haben diesen Verrat nie vergessen.

Wie Al-Qaida ist auch der IS gewissermaßen ein Kind der USA. Als George W. Bush 2003 unter dem Vorwand, Saddam Hussein besitze Massenvernichtungswaffen, in den Irak einmarschierte, beging er einen verhängnisvollen Fehler. Er ließ nicht nur die von Saddam Hussein geführte Baath-Partei zu einer „kriminellen Vereinigung“ erklären, sondern löste auch die irakische Armee und den irakischen Geheimdienst auf. Diese von heut auf morgen entlassenen Generäle, Offiziere, Soldaten und Geheimdienstleute bilden heute das organisatorische und strategische Herz des IS.

Die unter Saddam Hussein tätigen Offiziere der Armee und des Geheimdienstes waren keine religiösen Fanatiker. Obwohl mehrheitlich Sunniten, unterstützten sie die säkulare Baath-Partei. Es war der Hass auf die amerikanischen Besatzer, der sie zunächst in die Arme von „Al-Qaida im Irak“ (AQI), dann dem „Islamischen Staat im Irak“ (ISI), danach dem „Islamischen Staat im Irak und der Levante“ (ISIL) und schließlich des IS trieb.

Wenn der IS die USA heute gerne als „Schlange“ bezeichnet, hat dies einen durchaus verständlichen Hintergrund. Zwischen 1980 und 1988 führte der Irak mit Billigung und Unterstützung Amerikas einen Krieg gegen den Iran. Trotz offizieller Neutralität belieferten die USA den Irak mit Waffen. Da es aber nicht im Interesse des Weißen Hauses liegen konnte, dass sich Saddam Hussein der iranischen Raffinerien von Abadan bemächtigte, belieferte es zugleich auch den Iran mit Waffen. Darüber, dass sich der Irak während dieses Krieges amerikanischen, französischen und deutschen Giftgases bediente, ist man stillschweigend hinweggegangen. Erst als Saddam Hussein sich 1990 für die Kosten des Krieges durch die Ölfelder in Kuwait schadlos zu halten suchte, gab es einen „humanitären“ Aufschrei – neben den angeblich aus den Inkubatoren gerissenen Säuglingen diente der Giftgasangriff plötzlich zur Rechtfertigung des amerikanischen Einmarsches in Kuwait.


Besondere Wut lösten die von 1990 bis 2003 verhängten Sanktionen aus. Am 6. August 1990 verabschiedeten die Vereinten Nationen auf amerikanische Initiative ein Wirtschaftsembargo gegen den Irak, das lediglich „die medizinische Versorgung, Nahrungsmittel und andere lebensnotwendige Güter“ ausnahm. Da sich der Westen nicht an diese Ausnahmeregelung hielt und lange Zeit nicht einmal Medikamente ins Land ließ, kamen unter den Sanktionen mindestens eine Million Iraker ums Leben, die Hälfte davon Kinder.

Am 12. Mai 1996 wurde die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright in der Sendung „60 Minutes“ auf die Sanktionen angesprochen: „Eine halbe Million Kinder sollen mittlerweile gestorben sein. Das sind mehr Kinder, als in Hiroshima gestorben sind. Ist das den Preis wert?“ Albright antwortete kalt: „Ich denke, dass es den Preis wert ist.“ 1998 rechtfertigte sie die Sanktionen gegen den Irak sogar mit der zynischen Aussage: „Wenn wir Gewalt anwenden, dann deswegen, weil wir Amerika sind! Wir sind die unverzichtbare Nation. Wir haben Größe. Und wir blicken weiter in die Zukunft.“

Kann es wirklich verwundern, dass sich Teile der Machtelite des Irak nach dem Krieg, nach den Sanktionen und nach der Entlassung aus dem Dienst einer Organisation anschlossen, die Amerika zum Feind Nummer Eins erklärten und sich für die Gründung eines unabhängigen islamischen Staates aussprachen?

Der IS ist weit grausamer als es Al-Qaida je war. Vermutlich ist es sogar diese Grausamkeit, die ihm nicht nur radikale Muslime aus ganz Arabien, sondern auch aus Europa Zulauf finden lässt. Diese Menschen schließen sich dem Terrornetzwerk sowohl aus religiösen und existenziellen als auch aus sexuellen und sadistischen Gründen an. Dennoch verfolgt auch der IS ein klar umrissenes und recht begrenztes politisches Ziel: Die Gründung eines Kalifats, das neben Irak und Syrien auch die übrigen unter dem Sykes-Picot-Abkommen geschaffenen Staaten Libanon, Jordanien und Israel einschließt.

Man wird den IS sicher nie vernichtend schlagen können. Selbst wenn er gezwungen sein sollte, sein gegenwärtiges Territorium zu räumen, wird er sich lediglich zurückziehen, seine Arbeit vielleicht aus dem Untergrund fortsetzen oder sich einen neuen Namen zulegen. 

Dennoch wird man um eine militärische Auseinandersetzung mit dem IS nicht herumkommen. Wie die kürzliche Befreiung von Aleppo und die gegenwärtige Befreiung von Mossul zeigen, kann man den IS zur Aufgabe der von ihm besetzten Territorien zwingen. Angesichts der perfiden Taktik der Terroristen, sich in Schulen und Krankenhäusern zu verbergen und sich der ansässigen Bevölkerung als Schutzschilder zu bedienen, geht leider jede Befreiung mit einer großen Zahl von Todesopfern unter den Zivilisten einher.

Die vom IS besetzten Territorien zurück zu erobern, ist auch wichtig, um ihm den weiteren Zugang zum Öl abzuschneiden, mit dessen Verkauf er sich finanziert. Den IS zurück zu drängen oder sogar in den Untergrund zu treiben, erfordert jedoch ein politisches Umdenken in Washington. Donald Trump sollte sich mit Wladimir Putin für einen gemeinsamen Kampf gegen den IS verbünden. Und statt vollkommen kontraproduktive Sanktionen gegen Syrien und Iran zu verhängen, sollte man sie als Alliierte in den Kampf gegen den Terrorismus einbinden.

Zudem sollte Trump den von der demokratischen Kongressabgeordneten Tulsi Gabbard eingebrachten „Stop Arming Terrorist Act„ unterstützen, einen Gesetzentwurf, der nicht nur den Verkauf von Waffen an Al-Qaida und den IS, sondern auch an Staaten wie Saudi-Arabien, Katar und die Türkei verbietet, die im gegenwärtigen Syrien-Krieg nachweislich Terroristen mit Waffen beliefert haben.   

Um den IS dauerhaft zu schwächen, wird es letztlich aber unumgänglich sein, seine durchaus legitime Kritik an der amerikanischen Außenpolitik ernst zu nehmen. Dies ist kein „Appeasement“. Die militärischen Interventionen im Irak, in Libyen, in Syrien und im Jemen waren völkerrechtswidrig. Die Gründe für ein Einschreiten aus „humanitären“ Gründen waren weitgehend frei erfunden. Nicht nur im Irak, auch in Libyen und in Syrien ging es ausschließlich um ökonomische und geostrategische Interessen des Westens. Und schließlich: Selbst unverbesserliche Humanisten, die meinen, sich über das Selbstbestimmungsrecht der Völker hinwegsetzen zu können, sollten sich eine einfache moralische Frage vorlegen: Würde der Sturz eines autoritären Regimes wie das von Baschar al-Assad in Syrien nicht weit mehr Schaden verursachen als verhindern? Ich denke, ein Blick auf den heutigen Irak und das heutige Libyen dürfte diese Frage leicht beantworten. 




Zum Weiterlesen:

James Barr A Line in the Sand. Britain, France and the Struggle That Shaped the Middle East. 2011.

William Blum America’s Deadliest Export: Democracy. 2013.

Patrick Cockburn The Age of Jihad. Islamic State and the Great War For the Middle East. 2016.

Seymour M. Hersh The Killing of Osama bin Laden. 2016

Michael Scheuer Through Our Enemies’ Eyes. Osama bin Laden, Radical Islam and the Future of America. 2006.