Samstag, 12. November 2016

Die Zukunft einer Illusion



Im Herbst wird uns eine neue Welle der Religionskritik überschwemmen. Mit Richard Dawkins’ Buch „Der Gotteswahn“, Sam Harris’ „Das Ende des Glaubens“ und Christopher Hitchens’ „Der Herr ist kein Hirte“ stehen uns gleich drei rigorose Angriffe auf den Glauben ins Haus. Argumentativ bei weitem nicht so gut wie Norbert Hoersters „Die Frage nach Gott“, werden diese Bücher doch zweifellos ein weit breiteres Publikum erreichen. Vor allem aber werden sie die Debatte zur Religionskritik weg von rein theoretischen und hin zu eher praktischen Fragen lenken: Haben die Religionen dieser Welt alles in allem mehr Gutes oder Schlechtes bewirkt? Sind die Konflikte in Nordirland, Israel, Indien und anderswo nun religiös oder politisch motiviert? Ist die Religion wirklich die einzig verlässliche Grundlage unserer Moral? Haben religiöse Gefühle einen Anspruch darauf, nicht verletzt zu werden? Und wo genau liegen eigentlich die Grenzen der freien Religionsausübung?  



Einen der Einwände, den sich Dawkins & Co. immer wieder anhören müssen, ist der, dass die Religionskritik eine vergebliche Liebesmüh sei. Die Menschen hätten nun einmal ein angeborenes „metaphysisches Bedürfnis“, das nur durch die Religion zu befriedigen sei. Die neuen Aufklärer gäben sich daher auch einer bloßen Illusion hin, wenn sie allen Ernstes meinten, dass sich die Zahl der religiösen Menschen in nennenswertem Umfange reduzieren ließe. Doch ist die Kritik an der Religion tatsächlich eine reine Donquichotterie? Ist gegen den Glauben anzukämpfen genauso töricht wie gegen Windmühlen anzurennen? Ich glaube nicht. Ich denke, das Beispiel der ehemaligen DDR zeigt sehr schön, dass es kein angeborenes metaphysisches Bedürfnis gibt und eine religionskritische Erziehung durchaus fruchten kann. Nahezu allein durch die Verbannung des Religionsunterrichts aus den Schulen ist es dem DDR-Regime gelungen, die Zahl der Kirchenmitglieder von über 90 Prozent im Jahr 1949 auf unter 30 Prozent im Jahr 1989 zu senken. Trotz der deutschen Wiedervereinigung, der Rückkehr des Religionsunterrichts an die Schulen und enormer Anstrengungen einer Re-Christianisierung weigern sich die Brüder und Schwestern im Osten nach wie vor standhaft, in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche zurückzukehren.

Nun ist die Zahl, die nominell der evangelischen oder katholischen Kirche angehören, natürlich nicht sonderlich aussagekräftig. Schließlich kann man auch religiös sein, ohne offiziell einer Kirche anzugehören. Doch wie uns spätestens die 1998 vom Mannheimer Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) durchgeführte Internationale Sozialwissenschaftliche Umfrage zum Thema Religion gezeigt haben sollte, sind die konfessionslosen Ossis keineswegs verlorene Schafe, die ihr Heil außerhalb der Kirche suchen, sondern tatsächlich beinharte Atheisten. In der besagten Umfrage ist 40.000 Menschen aus 40 Nationen die „Gretchenfrage“ gestellt worden – darunter Amerikanern, Briten, Franzosen, Italienern, Russen, Australiern, Holländern und Deutschen. Die Ergebnisse zeigten deutlich, dass die Ossis tatsächlich das gottloseste Volk auf Erden sind.

Während nur 8,2 Prozent der Amerikaner, 12,4 Prozent der Italiener, 31,7 Prozent der Briten, 37,8 Prozent der Westdeutschen und immerhin 48,2 Prozent der Franzosen nicht an Gott glaubten, bezeichneten sich ganze 74,2 Prozent der Ostdeutschen als Atheisten. Umgekehrt sagten 85,6 Prozent der Amerikaner, 83,3 Prozent der Italiener, 62,5 Prozent der Briten, 51,7 Prozent der Westdeutschen, 40,4 Prozent der Franzosen, aber nur 18.5 Prozent der Ostddeutschen, dass sie „an Gott glauben und immer an ihn geglaubt haben“.

Auf die Frage, ob es „ein Leben nach dem Tode“ gibt, antworteten 80,5 Prozent der Amerikaner, 72,6 Prozent der Italiener, 59,4 Prozent der Briten, 55,1 Prozent der Westdeutschen, 50,7 Prozent der Franzosen und lediglich 14,9 Prozent der Ostdeutschen mit „ja“. Trotz ihres Zweifels an Gott, an einer unsterblichen Seele und einem Leben nach dem Tode betrachteten die Ossis ihr Leben jedoch keineswegs als sinnlos. So widersprachen der Behauptung, dass das Leben keinen Sinn habe, beispielsweise nur 76,1 Prozent der Westdeutschen, aber 86,3 Prozent der Ostdeutschen.  

Wer meint, dass uns die Religiosität gewissermaßen in die Wiege gelegt worden ist, wird vielleicht mutmaßen, dass die Ostdeutschen dafür abergläubischer seien als die Westdeutschen. Doch weit gefehlt! Die Ossis glauben weniger an Horoskope, Glücksbringer, Wahrsager und Wunderheiler als die Wessis. Während in den alten Bundesländern beispielsweise 9 Prozent auf die Astrologie schwören, sind es in den neuen Bundesländern nur 4 Prozent. Zudem sind die Ostdeutschen auch weit weniger wissenschaftsfeindlich als die Westdeutschen. Während im Westen 21,5 Prozent der Ansicht sind, dass wir „zu viel Vertrauen in die Wissenschaft und zu wenig in den religiösen Glauben setzen“, sind es im Osten nur 11.9 Prozent, die dieser Aussage beipflichten.

Im Westen sagt man gern, dass der Osten mit dem Kommunismus eine „Ersatzreligion“ gehabt habe, in der Marx zu Gott, das Kommunistische Manifest zur Bibel und der Kreml zum Vatikan erhoben wurden. Doch davon kann überhaupt keine Rede sein. Abgesehen von einer durchaus überschaubaren Zahl von Apparatschniks – von den knapp 2,3 Millionen SED-Mitgliedern dürften gut die Hälfte bloße Opportunisten gewesen sein, die sich unmittelbar nach dem Fall der Mauer auch als „Wendehälse“ entpuppten – waren die Ossis keine „gläubigen Kommunisten“. Sie wussten sehr wohl, dass sie in einer stalinistischen Diktatur leben, in der ihre Menschenrechte beschnitten und ihr Selbstbestimmungsrecht missachtet werden. In 26 Jahren DDR bin ich persönlich niemandem begegnet, der die „Aktuelle Kamera“ der „Tagesschau“ vorgezogen hätte. Allein die bedauernswerten Bewohner der Oberlausitz, dem „Tal der Ahnungslosen“, mussten mit dem „Schwarzen Kanal“ vorlieb nehmen und auf „Kennzeichen D“ verzichten.  

Angesichts des weit verbreiteten und anhaltenden Atheismus in der DDR lässt sich nur schwer an ein „metaphysisches Bedürfnis“ der Menschen glauben, das schier unausrottbar ist. Da niemand das Experiment des „real existierenden Sozialismus“ wiederholen wollte, stellt sich die Frage, ob der Religionskritik im Westen jemals ähnliche Erfolge beschieden sein könnten wie im Osten. Ich selbst bin zuversichtlich. Doch ich glaube, dass die Religionskritik nur einer von vier Faktoren ist, der die zunehmende Abkehr vom Glauben befördern wird. Die Bildung, die Kirche und die Theologie werden meines Erachtens das ihre dazu beitragen.

Der enorme Einfluss der Bildung, der möglicherweise hauptverantwortlich für den Schwund der Religiosität in Westeuropa ist, lässt sich vielleicht an keinem anderen Beispiel so gut demonstrieren wie an dem der USA. Während in der herkömmlichen Bevölkerung etwa 92 Prozent an Gott glauben und nur 8 Prozent Atheisten sind, ist es in der intellektuellen Elite, der Amerikanischen Akademie der Wissenschaften, genau umgekehrt: Unter den führenden US-Wissenschaftlern glauben nur 8 Prozent an Gott und 92 Prozent sind Atheisten.    

In seinem 1927 erschienenen Buch „Die Zukunft einer Illusion“ schrieb Sigmund Freud, dass die Religion drei Funktionen habe – sie soll die Welt erklären, moralische Orientierung bieten und seelischen Trost spenden. Nachdem die Religion die Funktion der Welterklärung längst an die Wissenschaft abgetreten hat, bleiben nur noch die Funktion der Moral und der Hoffnung. Doch um beide ist es mittlerweile eher schlecht bestellt. Moralisch fühlen sich zunehmend weniger in der Religion aufgehoben. Während die katholische Kirche mit ihren rigorosen Positionen mehr und mehr Menschen vor den Kopf stößt, scheint die evangelische Kirche mit ihren liberalen Positionen mehr und mehr Menschen zu entfremden. Wenn die Kirchen zu so grundlegenden Fragen wie der Empfängnisverhütung, dem Schwangerschaftsabbruch, der Sterbehilfe oder der Homosexualität keine einheitlichen Antworten mehr bieten, werden die Gläubigen, die sich moralische Orientierung von ihren Geistlichen versprochen hatten, zwangsläufig zu dem Schluss gelangen, dass sie sich genauso gut an die säkulare Ethik wie an die religiöse Ethik wenden können.

Ähnlich armselig ist es um den seelischen Trost bestellt. Nachdem evangelische Theologen wie Rudolf Bultmann und Dorothee Sölle es vorgemacht haben, folgen nun auch katholische Theologen wie Hans Küng und Eugen Drewermann der bewährten Defensivtaktik, die Religion auszuhöhlen und den Gottesbegriff bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen. So beschreibt Küng Gott etwa als „absolutes-relatives, diesseitiges-jenseitiges, transzendentes-immanentes“ Wesen, das „durch keinen Begriff zu begreifen, durch keine Aussage auszusagen und durch keine Definition zu definieren“ ist. Angesichts solch leerer Worthülsen werden sich schon bald mehr und mehr Christen besorgt fragen: „Was zum Teufel habe ich von einem Gott, der existent-inexistent ist? Ist ein solcher Gott nicht genauso gut wie gar kein Gott?“ Vor genau diesem Hintergrund mag dem „neuen Kreuzzug der Atheisten“, wie Der Spiegel ihn unlängst süffisant nannte, langfristig durchaus ein Sieg beschieden sein.

Samstag, 29. Oktober 2016

Das verkaufte Geschlecht



Die guten, alten Zeiten, in denen der Geburtshelfer einer von den Wehen erschöpften Mutter mit strahlendem Lächeln verkünden konnte „Es ist ein Mädchen!“, scheinen nun endgültig vorbei. Dank eines neuen genetischen Tests kann jetzt jede Frau schon ab der 5. Schwangerschaftswoche erfahren, ob sie ihr Kinderzimmer blau oder rosa streichen sollte. Alles, was die werdenden Mütter hierfür tun müssen, ist, ihren Laptop einzuschalten, auf die Website von PregnancyStore.com zu gehen und sich für umgerechnet etwa 250 Euro den so genannten „Baby Gender Mentor“ zu bestellen. In diesem Test-Kit, der ihnen ohne zusätzliche Versandgebühren innerhalb von nur 24 Stunden zugestellt wird, finden sie einen Schwangerschaftstest, eine sterile Nadel, ein Blatt Litmuspapier und einen frankierten Rückumschlag von Federal Express. Ein kleiner Stich in den Finger und zwei Tropfen Blut auf das Papier genügen, um die Probe geradewegs an das Acu-Gen Labor in Lowell, Massachusetts, verschicken zu können. In lediglich 3 Tagen erhalten sie dann eine E-Mail, die ihnen mit einer kaum zu schlagenden Zuverlässigkeit von 99,9 Prozent das Geschlecht ihres Babys verrät. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich das Labor mit seinem Testergebnis irrt, gibt es eine „200 Prozent Geld-zurück-Garantie“. Mit anderen Worten: Wenn eine Frau, die 250 Euro für den Test ausgegeben hat, statt des angekündigten Mädchens einen Jungen zur Welt bringen sollte, bekommt sie 500 Euro zurück!



Was wie ein Angebot klingt, das man nicht ablehnen kann, sorgt in den Vereinigten Staaten derzeit für einen heftigen Streit. Wissenschaftlerinnen wie Diana Bianchi von der Tufts University, die bereits seit zwei Jahrzehnten an der Entwicklung eines DNA-Tests aus mütterlichem Blut arbeitet, bezweifeln die Zuverlässigkeit des Baby Gender Mentors. Insofern fetale Zellen nur in einem Verhältnis von etwa 1 zu 1 Million im mütterlichen Blut schwimmen, lassen sie sich nur mühevoll herausfischen. „Ich bin zuversichtlich, dass wir in nicht allzu ferner Zukunft Mittel und Wege finden werden, die es uns erlauben, kindliche Zellen aus dem mütterlichen Blut zu isolieren“, meint Bianchi. „Doch ich glaube, dass wir noch mindestens 5 Jahre davon entfernt sind“.

Joe Leigh Simpson vom Baylor College of Medicine in Houston ist ebenfalls skeptisch. Simpson, dem es bereits 1991 gelungen ist, fetale Zellen mit Hilfe eines Antikörpers namens CD71 zu isolieren und auf Trisomie 21 zu testen, hat sich mit dem Geschäftsführenden Direktor von Acu-Gen Biolab Inc., einem Mann namens Dr. C. N. Wang, in Verbindung gesetzt. „Auf seiner Website behauptet das Labor, den Baby Gender Mentor in einer 14-jährigen Versuchsreihe an mehr als 20,000 Babies getestet zu haben. Als ich höflich um die Zusendung der Ergebnisse der klinischen Studie bat, hieß es, dass man die Testergebnisse erst der Öffentlichkeit zugänglich machen werde, wenn man den Baby Gender Mentor patentiert habe. Ich lasse mich gerne eines Besseren belehren, doch für mich klingt das, ehrlich gesagt, nach einem Ausweichmanöver.“

Die breite Öffentlichkeit stört der Streit der Wissenschaftler wenig. Seit der Baby Gender Mentor von Holly Osburn aus Glastonbury in Connecticut in Amerikas beliebtester Fernsehsendung, der NBC Today Show, vor laufender Kamera getestet worden ist, sollen Tausende von Frauen den Test-Kit sogleich online bestellt haben. Sherry Bonelli, die Präsidentin von PregnancyStore.com, dem einzigen Vertreiber des Baby Gender Mentor, schaut denn auch voller Zuversicht in die Zukunft. Da in den USA jedes Jahr etwa 4 Millionen Babys zur Welt kommen und rund die Hälfte aller Mütter das Geschlecht ihres Kindes gerne im voraus erfahren möchte, darf sie sich auf einen Umsatz in Milliardenhöhe freuen. Auf die Zweifel der Wissenschaftler antwortet sie mit der lakonischen Bemerkung, dass sie doch nur neidisch auf Acu-Gen Lab seien.

Die amerikanischen Lebensschützer wie etwa „ProLife“ haben ganz andere Sorgen. Sie befürchten, dass der Baby Gender Mentor die Zahl der jährlichen Abtreibungen dramatisch erhöhen könnte. Viele Frauen, so argwöhnen sie, mögen ein enttäuschendes Testergebnis zum Anlass nehmen, einen selektiven Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. So könnten Paare, die sich auf einen Jungen gefreut hat, beispielsweise dazu ermuntert werden, ihr ungeborenes Kind abzutreiben, nur weil es ein Mädchen ist.

Diese Sorge scheint in der Tat nicht ganz unberechtigt. Denn wie die Ökonomen Gordon Dahl und Enrico Moretti vom National Bureau of Economic Research in Cambridge, Massachusetts, kürzlich gezeigt haben, hängen amerikanische Männer nach wie vor einem Stammhalter-Denken an. Bei der Auswertung US-amerikanischer Bevölkerungsstatistiken der letzten 60 Jahre haben die Forscher entdeckt, dass Ehen mit einer Tochter 5 Prozent häufiger geschieden werden als Ehen mit einem Sohn. Die Wahrscheinlichkeit einer Scheidung nimmt dabei mit der Zahl der Töchter noch zu. Ehen mit zwei Mädchen werden 8 Prozent häufiger geschieden als Ehen mit zwei Jungen. Und Ehen mit drei Töchtern werden 13 Prozent häufiger geschieden als Ehen mit drei Söhnen.  

Dass die unterschiedlichen Scheidungsraten tatsächlich auf einer männlichen Vorliebe für Stammhalter beruhen, wurde deutlich, als man sich die Sorgerechtsklagen der vergangenen zwanzig Jahre ansah. Geschiedene Männer sind weit häufiger bereit, vor Gericht zu ziehen und um das Sorgerecht für ihre Kinder zu kämpfen, wenn sie Söhne haben als wenn sie Töchter haben.

Den vielleicht schlagendsten Beweis dafür, dass Männer Söhne gegenüber Töchtern bevorzugen, lieferte eine Untersuchung so genannter „Shotgun Marriages“: Wenn unverheiratete Paare ein Baby erwarten und eine Ultraschalluntersuchung ergibt, dass es ein Junge ist, heiraten sie nachweislich häufiger als wenn es ein Mädchen ist.  Für einen Sohn, so scheint es, sind Männer weitaus eher bereit, ihre schwangere Freundin sogleich zum Altar zu führen.

Kathy Hudson, Direktorin des Genetics and Public Policy Center der Johns Hopkins University in Baltimore, fürchtet, dass diese Forschungsergebnisse weitreichende soziale Konsequenzen haben könnten. „Auf der Grundlage der Daten von Dahl und Morietti muss man davon ausgehen, dass viele Paare den Baby Gender Mentor dazu nutzen werden, um sich den Wunsch nach einem Stammhalter zu erfüllen. Wenn Jungen erst einmal das Gros der erstgeborenen Kinder ausmachen, werden mehr und mehr Mädchen mit dem Gefühl aufwachsen müssen, nur zweite Wahl zu sein.“

Nachdem der Baby Gender Mentor Anfang dieses Jahres den australischen und den britischen Markt erobert hat, ist es sicher nur eine Frage der Zeit, bis er auch den deutschen Markt erreichen wird. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin, Hans-Rudolf Tinneberg, sieht jedoch keinen Grund zur Beunruhigung. „Anders als in den Vereinigten Staaten besteht in Deutschland keinerlei Anlass zu der Annahme, dass Frauen ein vollkommen gesundes Baby abtreiben werden, nur weil es nicht dem von ihnen erhofften Geschlecht entspricht. Aus Repräsentativbefragungen, die unser Giessener Zentrum für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Auftrag gegeben hat, wissen wir, dass zwei Dritteln aller Deutschen das Geschlecht ihrer Kinder gleichgültig ist. Diejenigen, denen das Geschlecht nicht egal ist, wünschen sich Kinder beiderlei Geschlechts - zumeist einen Jungen und ein Mädchen.“

Nach Tinnebergs Studie, die in der aktuellen Ausgabe der amerikanischen Fachzeitschrift „Fertility and Sterility“ publiziert worden ist, unterscheiden sich Amerikaner und Deutsche vor allem hinsichtlich ihrer Hoffnung auf einen Stammhalter. Während sich in Deutschland nur noch 14 Prozent einen Jungen wünschen, sehnen sich in Amerika immer noch 39 Prozent nach einem erstgeborenen Sohn.

Wie eine noch unveröffentlichte Untersuchung von Tinnebergs Kollegen, der Gynäkologin Susanne Grüßner und dem Psychotherapeuten Burkhard Brosig, zeigt, mag das Stammhalter-Denken in Deutschland inzwischen sogar ganz der Vergangenheit angehören. Von 263 schwangeren Frauen, die vor ihrer ersten Ultraschalluntersuchung nach ihrer Geschlechterpräferenz befragt worden sind, wünschten sich 8 Prozent einen erstgeborenen Sohn und 18 Prozent eine erstgeborene Tochter.

Während die Einführung des Baby Gender Mentors in Deutschland wohl ohne gesellschaftliche Folgen bliebe, könnte sie in Indien geradezu verheerende soziale Konsequenzen haben. Nach Amartya Sen, dem indischen Ökonomie-Nobelpreisträger, fehlen weltweit etwa 100 Millionen Frauen. Allein 37 Millionen dieser „Missing Women“, wie er sie bezeichnet, entfallen auf Indien, wo Religion und Tradition seit Jahrhunderten für eine so ausgeprägte Bevorzugung von Söhnen gesorgt haben, dass jedes Jahr Tausende von Mädchen abgetrieben, ausgesetzt oder gar gleich nach der Geburt getötet werden.

Nach einer im Januar in der britischen Fachzeitschrift „The Lancet“ veröffentlichten Untersuchung von Prabhat Jha vom Center for Global Health Research in Toronto sollen allein in den letzten beiden Jahrzehnten in Indien 10 Millionen weiblicher Feten abgetrieben worden sein. Das bedeutete, dass jedes Jahr etwa eine halbe Million indischer Kinder nicht das Licht der Welt erblicken, nur weil sie Mädchen sind. Diese nahezu unglaubliche Zahl von selektiven Abtreibungen ist durch die Einführung der Ultraschalldiagnostik ermöglicht worden, die es den Müttern ab der 16. Schwangerschaftswoche erlaubt, sich das Geschlecht ihres ungeborenen Kindes bestimmen zu lassen. Die Kombination von pränataler Diagnostik und selektiver Abtreibung hat dazu geführt, dass in manchen indischen Bundesstaaten, wie etwa Punjab, Haryana oder Gujarat, auf 1000 Jungen heute nur noch 793 Mädchen geboren werden.

Mit dem Erlass des so genannten „Prenatal Diagnostic Techniques and Prohibition of Sex Selection Act“ hat das indische Parlament bereits 1996 die vorgeburtliche Geschlechtsbestimmung zu nicht-medizinischen Zwecken gesetzlich verboten. Ärzte, die dem Gesetz zuwider handeln, müssen mit einer Geldstrafe in Höhe von 50.000 Rupees, dem Entzug ihrer Approbation oder gar einer Gefängnishaft von 5 Jahren rechnen. Dennoch gehen die selektiven Abtreibungen nahezu unvermindert weiter. Offenbar sind die religiösen und ökonomischen Ursachen der Bevorzugung von Jungen zu tief im Alltag der meisten Inder verwurzelt.

Nach hinduistischem Glauben kann ein Mann nur dann in den Himmel der Seligen gelangen, wenn er einen Sohn hinterlässt, der die Totenopfer vollzieht. Wer es versäumt, einen männlichen Nachfahren zu zeugen, dem zürnen die Ahnen und der muss nach dem Tod in die Hölle hinabsteigen. Vielleicht noch viel entscheidender ist jedoch die Tradition der Mitgift. Die indische Sitte schreibt vor, dass die Eltern der Braut Geld an die Familie des Bräutigams zu zahlen haben. Um ihre Tochter zu verheiraten, müssen die Inder oft tief in die Tasche greifen. Die Mitgiftzahlungen reichen von 25.000 bis zu 500.000 Rupies. Dies entspricht durchschnittlich etwa drei Jahresgehältern. Eine oder gar mehrere Töchter unter die Haube zu bringen, kann für viele Inder daher den finanziellen Ruin bedeuten. Und genau diese Situation, mit Söhnen reich, mit Töchtern aber arm zu werden, hat dafür gesorgt, dass sich so viele Inderinnen heute zu einer Abtreibung weiblicher Feten entschliessen. Die Kliniken, die Ultraschalluntersuchungen zur Bestimmung des Geschlechts anbieten, locken ihre Kundschaft daher bezeichnenderweise auch mit dem Slogan „Investiere 500 Rupies jetzt, spare 50.000 Rupies später.“

Man hatte lange gehofft, dass eine bessere Ausbildung und gesteigerte Verdienstmöglichkeiten der Mädchen der traditionellen Bevorzugung von Jungen ein Ende bereiten werde. Doch wie die kürzlich erschienene Untersuchung von Jha zeigt, sind es vor allem die gut ausgebildeten und gut verdienenden Frauen in Indien, die von der Ultraschalldiagnostik und der selektiven Abtreibung weiblicher Feten Gebrauch machen. Frauen, die ein Abitur haben, treiben ein Mädchen etwa doppelt so häufig ab wie Frauen, die Analphabeten sind.

Diese indischen Frauen sind offensichtlich die perfekte Zielgruppe für die Marketingexperten von PregnancyStore.com. Acu-Gen Biolabs CEO, Dr. C. N. Wang, beteuert zwar, dass der Baby Gender Mentor nicht in Länder mit einer nachweislichen Bevorzugung von Jungen vertrieben werde. Doch was ist von dem Versprechen eines Mannes zu halten, der in einem anderen Zusammenhang gesagt haben soll: „Wir liefern lediglich die Information. Was die Paare mit dieser Information machen, ist allein ihre Verantwortung.“


Sonntag, 9. Oktober 2016

"Creation": Der liebe Gott und das Leid der Tiere






Charles Darwins „Evolution durch natürliche Selektion“ gilt weithin als die größte Idee in der Geschichte der Wissenschaft. Seit ihrem ersten Bekanntwerden im Jahre 1859 gilt sie aber zugleich auch als die vielleicht gefährlichste Idee aller Zeiten. Obgleich es mit Spinoza, Hobbes, La Mettrie, Hume, Voltaire oder d’Holbach durchaus schon eine Vielzahl von Skeptikern gab, glaubte die Mehrheit der Menschen zu dieser Zeit doch noch an die Bibel, wonach Gott diese Welt mitsamt aller ihrer Kreaturen in sieben Tagen geschaffen hat. 



Darwin, der in seiner Jugend an der University of Cambridge zunächst Theologie studiert hatte, war sich der Sprengkraft seiner Idee auch sehr wohl bewusst. Wenn seine Idee richtig war, sagte er sich, hätte er Gott gewissermaßen arbeitslos gemacht. Schließlich bedurfte es jetzt keines Schöpfers mehr, um die Vielfalt der Arten und die Zweckmäßigkeit der Natur zu erklären.

Einige Freunde Darwins gingen freilich noch entschieden weiter. Sie behaupteten allen Ernstes, dass er Gott getötet habe. Getauft als Anglikaner und verheiratet mit einer tiefgläubigen Unitarierin, bereitete ihm die Idee der Evolution über Jahre schwere Gewissensnöte.

Genau an dieser Stelle setzt Jon Amiels wunderbarer Film „Creation“ ein. Es zeigt, wenn auch in einer frei erfundenen Geschichte, wie Charles Darwin im Jahre 1858 von Skrupeln geplagt die Veröffentlichung seines Hauptwerkes immer wieder hinauszögert.

Hinzu kommt, dass Darwin nach dem Tod seiner ältesten Tochter „Annie“, die im zarten Alter von gerade einmal zehn Jahren von einem heimtückischen Fieber dahingerafft wird, in regelmäßigen Abständen unter Anfällen einer tiefen Schwermut leidet. 

In Rückblicken und Tagträumen spricht er mit „Annie“, deren aufgeweckten Geist und unerschöpfliche Neugierde ihm stets ein Quell der Freude waren. Aber ihr Ableben stellt Darwin vor das Theodizee-Problem: Wie kann ein barmherziger Gott all das Leid in dieser Welt zulassen?

Durch die Evolutiontheorie hat sich das Problem der Theodizee noch verschärft. Denn nun war die Welt nicht mehr nur einige tausend Jahre, sondern einige Milliarden Jahre alt. Und das hieß, dass es das Leid schon weit länger als den Menschen gab. Wie kann also ein vermeintlich allmächtiger, allwissender und allgütiger Gott das namenlose Leid der Tiere dulden?

In seiner erst posthum erschienenen Autobiographie schrieb Darwin denn auch: „Dass es viel Leid auf Erden gibt, bestreitet keiner. Man hat das – soweit es den Menschen betrifft – damit zu erklären versucht, dass es seiner sittlichen Besserung diene. Aber die Zahl der Menschen ist wie nichts im Vergleich mit der aller anderen fühlenden Wesen. Diese leiden oft erheblich ohne die Möglichkeit einer sittlichen Besserung. Ein Wesen, das so mächtig und kenntnisreich ist wie ein Gott, der das Universum erschaffen konnte, erscheint unserem begrenzten Geist allmächtig und allwissend, und es beleidigt unser Verständnis, dass sein Wohlwollen nicht unbegrenzt sein soll, denn was für einen Vorteil könnte das Leiden von Millionen niederer Tiere durch fast endlose Zeiten hindurch haben?“

Um sich ein Bild vom Leiden der Tiere zu machen, lohnt es, einen Absatz aus dem Werk eines zeitgenössischen Evolutionsbiologen zu zitieren. In seinem Buch „Und es entsprang ein Fluss in Eden“ schreibt Richard Dawkins: „Das Leiden hat in der Natur jedes Jahr ein Ausmaß, das alle erträglichen Vorstellungen übersteigt. In der Minute, in der ich diesen Satz niederschreibe, werden Tausende von Tieren bei lebendigem Leibe gefressen; andere laufen bebend vor Angst um ihr Leben; wieder andere werden langsam und von innen heraus durch gefräßige Parasiten zugrunde gerichtet. Tausende von Lebewesen aller Arten sterben an Hunger, Durst und Krankheiten.“

Charles Darwin, der im Film übrigens wunderbar von Paul Bettany verkörpert wird, war freilich nicht der erste, dem das Leid der Tiere als ein Einwand gegenüber der Güte Gottes erschien. So schloss sich beispielsweise schon der französische Philosoph Nicolas Malebranche bewusst der berühmt-berüchtigten Auffassung von René Descates an, wonach Tiere seelenlose Automaten seien, die keinerlei Gefühle kennen würden. Denn wie, so fragte er, sollte man sonst erklären, dass ein gerechter Gott unschuldige Tiere leiden lässt?

Inzwischen dürfte es wohl kaum noch jemanden geben, der bestreiten würde, dass zumindest höhere Lebewesen, wie insbesondere die Säugetiere, Schmerzen empfinden können. In einem neuen Versuch, das Leiden der Tiere mit der Güte Gottes in Einklang zu bringen, hat der Theologe Eugen Drewermann jedoch kürzlich einen ganz ähnlichen Weg beschritten. Er behauptet, dass Tiere, die in freier Wildbahn gerissen werden, nicht leiden. Seiner Ansicht nach versterben die Beutetiere bereits, bevor die Raubtiere sie zu zerfleischen beginnen. Sie sterben an einem, wie er es nennt, „Vagus-Tod“, einem plötzlichen Herzversagen, das im Zustand absoluter Ausweglosigkeit einzutreten pflege: „So kann eine Antilope sterben, noch ehe die Pranken der sie verfolgenden Löwin sich in ihr Fleisch schlagen.“

Ich will nicht in Abrede stellen, dass es solche Todesfälle geben mag. Doch wie jeder, der schon einmal eine Dokumentation über das Leben in der Serengeti gesehen hat, weiß, ist das keineswegs die Regel. Anders als Löwen sind Hyänen beispielsweise außerstande, ihre Opfer mit einem einzigen Biss zu töten. Zumeist dauert es zwanzig qualvolle Minuten, bis ein von einem Rudel von Hyänen zur Strecke gebrachtes Zebra endlich stirbt.

In seinem erwähnten Buch „Und es entsprang ein Fluss in Eden“ hat sich übrigens auch schon Richard Dawkins mit der Idee eines „Vagus-Todes“ beschäftigt: „Wäre die Natur freundlich“, schreibt er, „würde sie wenigstens ein kleines Zugeständnis machen und die Tiere betäuben, bevor sie bei lebendigem Leibe gefressen werden. Man könnte sich leicht ein Gen vorstellen, dass beispielsweise die Gazelle sediert, wenn sie im Begriff ist, den tödlichen Biss zu erleiden. Würde die natürliche Selektion ein solches Gen fördern? Nein, es sei denn, durch die Beruhigung der Gazelle steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Gen an zukünftige Generationen weitergegeben wird. Wie das geschehen soll, ist schwer zu erkennen, und deshalb müssen wir annehmen, dass Gazellen schreckliche Schmerzen und Ängste erdulden, wenn sie zu Tode gejagt werden – und dieses Schicksal steht den meisten von ihnen bevor.“    

Von all den christlichen Apologeten, die sich mit dem Theodizee-Problem auseinandergesetzt haben, hat sich wohl niemand so sehr mit der Frage nach dem Leid der Tiere beschäftigt wie der irische Literaturwissenschaftler und Schriftsteller C. S. Lewis. In seinem 1940 erschienenen Buch „Das Problem des Schmerzes“ hat er den Tieren ein ganzes Kapitel gewidmet. Gleich im ersten Absatz stellte er die theologische Herausforderung durch das Leiden der Tiere in aller Fairness dar:

„Die ganze Zeit aber dringt eine Klage von unverschuldetem Weh durch die Wolken, weil die christliche Deutung des menschlichen Schmerzes nicht auf den Schmerz der Tiere ausgedehnt werden kann. Soweit wir wissen, sind Tiere weder der Sünde noch der Tugend fähig; und also leiden sie weder zu Recht, noch können sie durch Leid gebessert werden.“

Nahezu ein Jahrhundert nach Charles Darwins „Die Entstehung der Arten“ lehnt Lewis auch den Gedanken ab, dass das Leiden der Tiere eine Folge der Erbsünde und Adams Fall sei:

„Dies ist nicht mehr möglich; denn wir haben guten Grund anzunehmen, dass die Tiere lange vor den Menschen existiert haben. Fleischfresserei mit allem, was daraus folgt, ist älter als die Menschheit.“

Obgleich sich Lewis davor scheut, die Erbsünde ins Spiel zu bringen, nimmt er seine Zuflucht dann aber letztlich doch bei „Satan“ und der „Macht der Finsternis“:

„Gibt es, wie ich glaube, eine solche Macht, dann ist es durchaus möglich, dass sie die Schöpfungsordnung der Tiere schon vor dem Auftreten des Menschen verdorben hat.“  

Gewiss ist dies möglich! Doch philosophisch ist es eine reine ad hoc Annahme. Hier wird einfach an die „Macht der Finsternis“ appelliert, ohne auch nur den geringsten Versuch zu unternehmen, deren Existenz zuallererst zu begründen. Noch wird die Frage angesprochen, weshalb der Schöpfer einem übelwollenden Teufel eigentlich Macht über seine Kreaturen einräumen sollte.

Lewis scheint sich der Schwäche seines Arguments denn auch bewusst zu sein, wenn er schließlich sogar über die „Unsterblichkeit der Tiere“ zu spekulieren beginnt. Doch dass Gott sich genötigt fühlen sollte, die Tiere im Himmel für ihr Leiden auf Erden zu entschädigen, kommt freilich einer Kapitulation vor dem Theodizee-Problem gleich.

Ein metaphysikfreier Versuch einer Theodizee ist unlängst von dem britischen Philosophen Michael Ruse unternommen worden. Obgleich selbst Atheist, hat sich Ruse in den vergangenen Jahren mehr und mehr zu einem Gegenspieler von Dawkins entwickelt. Dessen Buch „Der Gotteswahn“ kommentierte er mit der Bemerkung, dass es eine „Schande für den Atheismus“ sei. In seinem Buch „Can A Darwinian Be A Christian?“ versucht Ruse denn auch Dawkins mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Hierzu greift er Dawkins’ Bemerkung auf, dass, wo auch immer wir im Universum auf Leben stoßen sollten, es sich dem Prozess der Evolution durch natürliche Selektion verdanken werde.

Geradezu triumphierend behauptet Ruse, dass Dawkins mit dieser Bemerkung den Christen unfreiwillig in die Hände gespielt habe: Denn wenn es keine Alternative zur Evolution gebe, habe Gott selbstverständlich auch keine andere Wahl gehabt, als seine Schöpfung den Gesetzen von Mutation und Selektion zu unterwerfen. Dass die Tiere einer „Natur mit Zähnen und Klauen blutigrot“ ausgeliefert sind, sei daher einfach der unvermeidliche Preis der Schöpfung.

Doch dies ist natürlich ein billiger Trick. Dawkins hat nie behauptet, dass es überhaupt keine Alternative zur Evolution gebe. Er hat lediglich gesagt, dass, wo auch immer Leben von selbst entsteht, es sich sicher unter denselben Darwinschen Gesetzmäßigkeiten entwickelt haben wird wie das Leben auf unserer Erde. Davon, dass selbst ein allwissender Gott auf die Evolution durch natürliche Selektion angewiesen sein würde, war nie die Rede. Zu behaupten, dass Gott außerstande gewesen sei, eine Natur zu schaffen, in der es kein Gesetz des Fressens und Gefressenwerdens gebe, ist erneut eine reine ad hoc Behauptung.

In einem Interview mit der BBC ist der bekannte Tierfilmer Sir David Attenborough einmal gefragt worden, wie er es mit der Religion halte. Denn in keiner seiner Dokumentationen habe er je das Wort „Schöpfer“ gebraucht. Attenborough antwortete, dass er keineswegs blind für die Schönheit der Natur sei. Doch neben den Orchideen, den Schmetterlingen und den Paradiesvögeln sehe er auch einen dreijährigen Jungen in Westafrika, dessen Augapfel von einem Wurm durchbohrt werde und ihn erblinden lasse, bevor er das fünfte Lebensjahr erreicht. „Bereits die Existenz solch parasitärer Würmer scheint mir gegen die Idee eines barmherzigen Schöpfers zu sprechen.“ 

Attenboroughs Antwort erinnert stark an eine Aussage Darwins. In einem Brief an seinen Freund Asa Gray schrieb er einmal: „Ich kann mich nicht zu der Ansicht überreden, dass ein wohlmeinender und allmächtiger Gott die Ichneumonidae ausgerechnet mit der Absicht geschaffen haben soll, dass sie sich im lebenden Körper von Raupen ernähren.“ Die Ichneumonidae sind eine Klasse parasitärer Wespen. Mit einem gezielten Stich lähmen sie die motorischen, nicht aber die sensorischen Nerven einer Raupe, um dann ihre Eier darin abzulegen. Wenn die Larven schlüpfen, fressen sie sich ihren Weg durch den lebenden Körper ihres Wirts.

Wir wissen nicht, ob Raupen Schmerz empfinden können. Doch ich glaube der Grund, weshalb Darwin das Beispiel der Ichneumoniden gewählt hatte, bestand auch nicht darin, zu zeigen, wie sehr Tiere leiden, sondern darin, welche Rückschlüsse wir auf den Charakter des Schöpfers ziehen müssten, wenn wir in der Natur ein Werk Gottes erblicken wollten: Was sagt die Schöpfung von Parasiten, die ihren Wirt von innen auffressen, über den Schöpfer aus?

Die Theologen können sich daher also auch drehen und wenden, wie sie wollen, eine Natur mit Viren, Bakterien und Parasiten, die nicht nur über Menschen, sondern auch über Tiere herfallen, lässt sich einfach nicht mit dem Glauben an einen fürsorgenden und barmherzigen Gott vereinbaren. Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass der Darwinismus den Theismus widerlegt hätte. Keineswegs! Es ist nach wie vor möglich, an einen Schöpfer zu glauben. Doch von diesem Schöpfer ließe sich vieles sagen – dass er gleichgültig, launisch, erbarmungslos, grausam oder gar zynisch sei –, nur eines mit Sicherheit nicht: dass er gütig sei!

Und dies war letztlich auch die Ansicht von Charles Darwin. Seine Idee der Evolution hat ihn nicht zu einem Atheisten, sondern lediglich zu einem Agnostiker werden lassen, der sich bis an sein Lebensende mit der Gottesfrage quälte.

Ein Grund für diese Qual wird im Film „Creation“ denn auch sehr eindringlich dargestellt: Seine Frau Emma, gespielt von Jennifer Conelly, liebt Charles so sehr, dass es ihr förmlich Schmerzen bereitet, sich vorzustellen, dass sie wegen seiner Zweifel im nächsten Leben vielleicht nicht zusammen sein sollten.     

Dienstag, 20. September 2016

Die Kunst, glücklich zu sein




Auf den ersten Blick mag es verblüffen, dass Arthur Schopenhauer, dessen Name zu einem Synonym für Pessimismus geworden ist, eine „Eudämonologie oder Die Kunst, glücklich zu sein“ geschrieben hat. Wie kann ein Mann, der das Leben als eine Sache betrachtet, „die es besser ist hinter sich, als vor sich zu haben“, eine Anleitung zum Glücklichsein verfassen?

Schopenhauers Ansicht nach ist „in der Welt überall nicht viel zu holen: Noth und Schmerz erfüllen sie, und auf Die, welche diesen entronnen sind, lauert in allen Winkeln die Langeweile. Zudem hat in der Regel die Schlechtigkeit die Herrschaft darin und die Thorheit das große Wort. Das Schicksal ist grausam und die Menschen sind erbärmlich.“

Ist es nicht paradox, dass ein Mann, der diese Welt für ein Jammertal hält, seine Zeit damit vergeudet, eine Kunst zu lehren, die seinem eigenen Eingeständnis nach, nie zum Ziele führen kann?

Das vermeintliche Paradoxon löst sich schnell auf, sobald man einen genaueren Blick auf sein Buch wirft. Dann kann man nämlich erkennen, dass es Schopenhauer auch gar nicht darum zu tun war, eine Anleitung zu geben, wie man sein Glück mehren könne, sondern vielmehr eine Anleitung, wie man sein Unglück verringern könne. Sein Buch besteht lediglich aus Maximen, die es uns ermöglichen sollen, „den Pfeil und Schleudern des wütenden Geschicks“ so weit als irgend möglich zu entgehen. Statt des Titels „Die Kunst, glücklich zu sein“, hätte sein Buch daher auch genauso gut den Titel „Die Kunst, nicht allzu unglücklich zu sein“ tragen können. 



Nach Schopenhauer sind wir alle in Arkadien geboren: „Wir treten in die Welt voll Ansprüche auf Glück und Genuß und bewahren die thörichte Hoffnung, solche durchzusetzen, bis das Schicksal uns unsanft packt und uns zeigt, daß nichts unser ist, sondern alles sein, da es ein unbestreitbares Recht hat nicht nur auf allen unsern Besitz und Erwerb, sondern auf Arm und Bein, Auge und Ohr, ja auf die Nase mitten im Gesicht.“ Erst wenn wir erkennen, dass unser Streben nach Glück „einer Jagd nach einem Wilde gleicht, das gar nicht existiert“, hören wir auf, Glück und Genuß zu suchen, und sind allein darauf bedacht, dem Schmerz und Leiden möglichst zu entgehen“.

Die erste Lektion, die Schopenhauer seinem Publikum erteilt, lautet denn auch: „Um nicht sehr unglücklich zu werden, ist das sicherste Mittel, daß man nicht sehr glücklich zu werden verlange, also seine Ansprüche auf Genuß, Besitz, Rang, Ehre u.s.f. auf ein ganz Mäßiges herabsetze: denn eben das Streben und Ringen nach Glück zieht die großen Unglücksfälle herbei.“

Die zweite Lektion, die wir in unserem Leben zu lernen haben, ist, uns selbst zu erkennen. „Ein Mensch muß wissen, was er will, und wissen, was er kann.“ Solange jemand sich selbst nicht kennt und über seine eigenen Vorlieben und Abneigungen im unklaren ist, wird er nämlich „manchen um eine Lage und Verhältnisse beneiden, die doch nur dessen Charakter, nicht dem seinigen, angemessen sind, und in denen er sich unglücklich fühlen würde. Denn wie dem Fische nur im Wasser, dem Vogel nur in der Luft, dem Maulwurf nur unter der Erde wohl ist, so jedem Menschen nur in der ihm angemessenen Atmosphäre; wie denn zum Beispiel die Hofluft nicht jedem respirabel ist.“

Erst wenn man mit seinen eigenen Stärken und Schwächen vertraut ist, wird man aufhören, „mit falscher Münze zu spielen“ und „etwas anderes sein zu wollen, als man ist“. „Nachahmung fremder Eigenschaften und Eigentümlichkeiten ist“ nach Schopenhauer „viel schimpflicher als das Tragen fremder Kleider: denn es ist das Urteil der eigenen Wertlosigkeit von sich selbst ausgesprochen.“ Schopenhauer gemahnt uns in diesem Zusammenhang denn auch noch einmal an Goethes berühmtes Wort aus dem „Faust“:

Du bist am Ende, was du bist.
Setz dir Perücken auf von Millionen Locken,
Setz deinen Fuß auf ellenhohe Socken:
Du bleibst doch immer, was du bist.


Im Jüdischen gibt es die schöne Redewendung: „Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähl ihm von deinen Plänen.“ Ganz ähnlich rät Schopenhauer in einer dritten Lektion davon ab, die Rechnung ohne den Wirt zu machen. Wann immer wir Pläne für unser Leben schmieden, sollten wir daran denken, dass unser Schicksal nur sehr bedingt in unserer Hand ist:

„Es ist im Leben wie im Schachspiel: in beiden machen wir zwar einen Plan: dieser bleibt aber ganz und gar bedingt durch das, was im Schachspiel der Gegner und im Leben das Schicksal zu tun belieben wird.“

Ein vierter Ratschlag, den Schopenhauer uns mit auf den Weg gibt, lautet, dass wir das wenige, das uns vergönnt ist, zu würdigen wissen sollten. Statt der Flüche, mit denen wir behaftet sind, sollten wir unsere Segnungen zählen. „Wir müssen es dahin zu bringen suchen, dass wir, was wir besitzen, mit eben den Augen sehn, wie wir es sehn würden, wenn es uns entrissen würde: was es auch sei, Eigentum, Gesundheit, Freunde, Geliebte, Weib und Kind: meist fühlen wir den Wert erst nach dem Verlust. Wir pflegen beim Anblick alles dessen, was wir nicht haben, zu denken, »wie, wenn das mein wäre?«, und dadurch machen wir uns die Entbehrung fühlbar. Statt dessen sollten wir bei dem, was wir besitzen, denken: »wie, wenn ich dies verlöre?«“    

Nachdem er Senecas Ausspruch zitiert: „Niemals wirst du glücklich sein, wenn es dich quält, daß ein anderer glücklicher ist“, schreibt Schopen-hauer: „Nichts ist so unversöhnlich und so grausam wie der Neid: und doch sind wir unaufhörlich bemüht, Neid zu erregen!“

Die fünfte Lektion, die Schopenhauer seinen Lesern mit auf den Weg gibt, lautet daher: Nichts ist unserer Zufriedenheit abträglicher als ein auf Neid abzielendes Streben nach Geld und Ansehen.

„Es ist eine große Thorheit, um nach außen zu gewinnen, nach innen zu verlieren, d.h. für Glanz, Rang, Prunk, Titel und Ehre, seine Ruhe, Muße und Unabhängigkeit hinzugeben. Man erringt den Wohlstand für gewöhnlich nur auf Kosten seiner Muße: aber was hilft mir der Wohlstand, wenn ich das, was allein ihn wünschenswerth macht, die freie Muße, dafür hingeben soll?“

Wie hinlänglich bekannt, hatte Schopenhauer keine sonderlich hohe Meinung von den Menschen. „Die gewöhnlichen Leute sind bloß darauf bedacht, die Zeit zuzubringen, wie dies die Erbärmlichkeit der Zeitvertreibe bezeugt, zu denen man sie greifen sieht, imgleichen die Art ihrer Geselligkeit und Konversation, nicht weniger die vielen Thürsteher und Fensterkucker.“

Da ihm das Fernsehen noch unbekannt war, ereifert er sich insbesondere über das Kartenspiel, das für ihn „der deklarirte Bankrott an allen Gedanken ist: Weil sie nämlich keine Gedanken auszutauschen haben, tauschen sie Karten aus und suchen einander Gulden abzunehmen. O, klägliches Geschlecht!“  

Trotz seiner zunächst etwas elitär anmutenden Denkweise räumt Schopenhauer -- im großen Unterschied zu allen anderen Philosophen -- der bloßen „Heiterkeit des Sinnes“ jedoch eine weitaus größere Bedeutung bei als den „Fähigkeiten des Kopfes“. Für ihn ist die angeborene Heiterkeit des Gemüts ein unmittelbarer Gewinn: „Nichts kann so sehr, wie diese Eigenschaft, jedes andere Gut vollkommen ersetzen; während sie selbst durch nichts zu ersetzen ist. Einer sei jung, schön, reich und geehrt; so frägt sich, wenn man sein Glück beurtheilen will, ob er dabei heiter sei: ist er hingegen heiter; so ist es einerlei, ob er jung oder alt, gerade oder pucklich, arm oder reich sei; er ist glücklich.“




Samstag, 17. September 2016

Der Planet der Affen





Am 12. Oktober 2007 hat die Giordano-Bruno-Stiftung erstmals ihren mit € 10.000 dotierten "Deschner-Preis" vergeben. Dieser nach dem bekannten Kirchenkritiker Karlheinz Deschner benannte Preis ist für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Religions- und Ideologiekritik gedacht. Der damalige Preisträger war der Oxforder Evolutionsbiologe Richard Dawkins, der mit seinem in über 30 Sprachen übersetzten Buch "Der Gotteswahn" zweifellos einen herausragenden Beitrag zur Kritik der monotheistischen Religionen geleistet hat.

Am 3. Juni 2011 sollte der Deschner-Preis an den australischen Philosophen Peter Singer verliehen werden. Die Wahl schien denkbar gut getroffen. Denn wie Karlheinz Deschner, so setzt sich auch Peter Singer bereits seit Jahrzehnten für den Schutz der Tiere ein. Sein in über 20 Sprachen übersetztes Buch „Animal Liberation“ gilt vielen geradezu als „Bibel der Tierbefreiungsbewegung“. Vermutlich gibt es kein zweites Buch, das so viele Menschen dazu gebracht hat, dem Verzehr von Fleisch zu entsagen und sich vegetarisch zu ernähren. 




Trotz anfänglicher Begeisterung sprach sich Karlheinz Deschner nur wenige Monate vor dem Festakt gegen die Verleihung des nach ihm benannten Preises an Peter Singer aus. Bislang konnte man nur mutmaßen, was Deschner zu seinem Geisteswandel bewogen haben mag. Inzwischen hat Gabriele Röwer jedoch Licht in das Dunkel gebracht. In einem in der Zeitschrift „Aufklärung und Kritik“ veröffentlichten Artikel beschreibt sie, was Karlheinz Deschner von Peter Singer trennt.

Für Karlheinz Deschner geht die Tierethik von Peter Singer nicht weit genug. Anders als Singer möchte Deschner jedes Lebewesen geschützt sehen. Ohne den religiösen Begriff von der „Heiligkeit allen Lebens“ zu bemühen, glaubt er doch, dass jedes Leben den gleichen Wert habe. Auch wenn nicht alles Leben gleichartig sei, sei es doch gleichwertig.

Der Grund für Deschners ungewöhnliche Haltung liegt an seinem – auch von Giordano Bruno geteilten – Hang zum „Hylozoismus“: „Ich neige zum Hylozoismus, wonach jeder Stoff (hyle) von Leben (zoe) erfüllt ist, zum nahverwandten Panpsychismus sogar, der alle Materie für beseelt hält – woran ich nur beim Anblick bestimmter Artgenossen zweifle, aber nie vor Tieren, Blumen, einem Baum.“

Bei aller Bewunderung für den Autor der zehnbändigen „Kriminal-geschichte des Christentums“ wirft seine Weltanschauung doch einige kritische Fragen auf. Wie Deschner weiß, ist jede philosophische Position nur so gut wie die Argumente, die sie stützen. Doch wo sind die Argumente, die es uns erlauben anzunehmen, dass alle Lebewesen – ganz zu schweigen von aller Materie! – „beseelt“ wären?

Sicher, es lässt sich nicht ausschließen, dass auch Bakterien, Blumen, Bäume, Schmetterlinge, Würme und Käfer eine „Seele“ haben. Doch aus der Tatsache, dass sich die Existenz eines Innenlebens bei diesen Wesen nicht ausschließen lässt, folgt noch nicht, dass sie eines haben. Wir brauchen plausible Gründe dafür anzunehmen, dass, sagen wir, eine Rose oder eine Ameise, ein Bewusstsein, ein Ich oder ein Selbst haben. Nach allem, was wir wissen, spricht nichts dafür, dass sie auch nur empfindungsfähig, geschweige denn leidensfähig, sind.

Ich bezweifle nicht im geringsten, dass sich Karlheinz Deschners Mitgefühl buchstäblich auf alle Lebewesen erstreckt. Doch ich wage zu bezweifeln, dass er wirklich davon überzeugt ist, dass alles Leben den gleichen Wert habe. Wie wir alle, so ist auch Deschner dazu gezwungen, Werturteile vorzunehmen. Es vergeht kein Tag, an dem wir dies nicht tun. Wenn wir beim Aufschneiden einer Tomate nicht denselben Widerwillen empfinden wie wir ihn beim Aufschneiden einer Katze empfinden würden, zeigt dies bereits, dass wir nicht alles Leben als gleich wertvoll betrachten.

Angenommen, Karlheinz Deschner befände sich in einer Klinik für Reproduktionsmedizin. Nachdem ein Feuer ausbricht, kann er entweder ein gerade geborenes Baby oder eine Petrischale voller Embryonen retten. Würde er – würde irgendjemand? – daran zweifeln, dass er das Baby retten würde? Wenn er dem Überleben des Babys aber größere Bedeutung beimisst als dem Überleben der Embryonen, kann er unmöglich alles Leben für gleichermaßen wertvoll erachten.

Es gibt gute Gründe dafür, dass wir allen Menschen von Geburt an nicht nur ein moralisch, sondern auch ein juridisch geschütztes Recht auf Leben zuerkennen. Wollte Deschner allen Ernstes, dass wir auch das Leben von Bakterien mit der Macht des staatlichen Schwertes verteidigen, selbst wenn dies bedeutete, dass wir dann Kleinkinder an Diphterie sterben lassen müssten? 

Es erscheint mir offenkundig, dass Deschner die praktischen Konsequenzen seines Hylozoismus nicht ernsthaft durchdacht hat. „Alles Leben hat den gleichen Wert!“, hört sich zweifellos schön an. Damit kann man durchaus ein „Wort zum Sonntag“ bestreiten. Doch letztlich ist es eine bloße Floskel. Und wenn es jemand versteht, bloße Floskeln als solche zu entlarven, dann ist es für gewöhnlich Karlheinz Deschner.

Darüber hinaus missversteht Deschner die Auffassung von Singer auch. Wenn es etwa heißt, dass „philosophische Spekulationen darüber, wer leben darf und wer nicht“, Deschners Wesen fremd seien und ihm geradezu zynisch erscheinen, dann unterstellt er Singer eine Absicht, die er gar nicht verfolgt. Singer versucht nicht zu entscheiden, „wer leben darf und wer nicht“, sondern er versucht zu entscheiden, wessen Leben wir mit Hilfe von Moral und Recht schützen sollten. Dies ist keineswegs dasselbe. Selbst wenn Singer den Schutz von Moral und Recht auf das Leben von Menschen, Schimpansen, Elefanten oder Delfinen beschränkt, bedeutet dies nicht, dass alle anderen Lebewesen nun keine Daseinsberechtigung hätten, nicht leben dürften und getötet werden müssten. Es bedeutet lediglich, dass wir die Tötung einer Ameise, eines Käfers oder einer Schnecke nicht von unseren Justizbehörden verfolgen und ahnden lassen.

Es ist schwer vorstellbar, dass Deschner anders denkt als Singer. Wenn er zwar die Tötung eines lärmenden Kindes, nicht aber die Tötung einer lästigen Fliege strafrechtlich verfolgen und mit Freiheitsentzug ahnden lassen will, kann er einfach nicht jedem Leben den gleichen Wert beimessen.

Es wäre mehr als bedauerlich, wenn die geistigen Bande zwischen Peter Singer und Karlheinz Deschner durch bloße Missverständnisse zerrissen würden. Er sollte das „Great Ape Project“, für das Singer letztlich den „Ethik-Preis“ der Giordano-Bruno-Stiftung erhalten hat, als das betrachten, was es ist: Ein erster Schritt in Richtung eines moralischen und rechtlichen Schutzes nicht-menschlicher Tiere. Dass dieses Projekt auf Schimpansen, Gorillas, Orang-Utans und Bonobos beschränkt ist, bedeutet nicht, dass es zu Lasten anderer Tiere ginge. Ganz im Gegenteil! Sobald es gelungen ist, die Gesetzgeber dieser Welt von der Notwendigkeit eines rechtlichen Schutzes großer Menschenaffen zu überzeugen, kann damit begonnen werden, diesen Schutz auch auf andere Tiere zu erweitern.    



Mittwoch, 14. September 2016

Jenseits von Schuld und Sühne



In seiner 1872 gehaltenen Rede über „Die Grenzen des Naturerkennens“ erklärte der deutsche Physiologe Emil Du Bois-Reymond das Problem der Freiheit des menschlichen Willens für unlösbar. „Ignoramus et Ignorabimus“: „Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen“, lautete sein ernüchterndes Urteil.

Wie jeder wissenschaftstheoretisch geschulte Philosoph zugeben wird, hatte der Mediziner mit seiner Diagnose durchaus Recht. Wie bei der Frage nach Gott oder der Seele haben wir es bei der Willensfreiheit mit einem schier unlösbaren Problem zu tun. Unlösbar, weil sich Existenzaussagen nicht widerlegen und Nichtexistenzaussagen nicht beweisen lassen.

Dies ist jedoch alles andere als ein Grund zur Resignation. Denn wenn wir die Willensfreiheit auch weder zu beweisen noch zu widerlegen vermögen, können wir doch sehr wohl das Problem lösen, das sich hinter ihr verbirgt. Dass uns die Willensfreiheit so stark beschäftigt, liegt schließlich vor allem daran, dass wir wissen wollen, ob wir Menschen für ihre Handlungen moralisch verantwortlich machen können.  



Ob Menschen für das, was sie tun, Lob und Tadel verdienen, ist jedoch viel einfacher zu klären, als gemeinhin angenommen. Gott, Freud und Libet zum Trotz bedarf es hierzu weder der Messung von neuronalen Aktionspotenzialen noch der Auswertung von Aufnahmen eines Magnetresonanztomographen. Die Frage, ob wir unsere Mitmenschen für ihr Tun und Lassen zur Verantwortung ziehen dürfen, lässt sich nämlich sogar a priori verneinen.

Die hierzu erforderliche Überlegung, die den Köpfen von Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und Galen Strawson entstammt, ist dabei ebenso einfach wie bestechend: Wir tun, was wir tun, weil wir sind, wie wir sind. Dass wir sind, wie wir sind, ist weder unsere Schuld noch unser Verdienst. Denn so, wie wir uns nicht ausssuchen konnten, geboren zu werden, so konnten wir uns auch nicht aussuchen, mit welchem genetischen Erbe und in welche soziale Umwelt wir geboren werden. Da wir also keinerlei Kontrolle über unsere Geburt, unser Erbe und unsere Umwelt hatten, können wir auch nicht dafür verantwortlich sein, dass wir sind, wie wir sind.

Gewiss, Menschen können ihr Verhalten ändern. Doch ob sie dazu wirklich in der Lage sind, ist wieder eine Frage von Erbe und Umwelt. Den einen ist es gegeben, den anderen ist es verwehrt. Insofern allein Erbe und Umwelt entscheiden, ist es also letztlich eine Sache von Glück und Pech. Wenn aber bloßes Glück und Pech entscheiden, kann man Menschen auch keinen Vorwurf daraus machen, dass sie sind, wie sie sind, und dass sie handeln, wie sie handeln.

„Aber wir haben doch das Gefühl, frei zu sein!“, wird man einwenden. Sicher, dieses Gefühl haben viele; doch auf dieses Gefühl können wir uns nachweislich nicht verlassen. Denn wie spätestens die Hypnose gezeigt hat, kann dieses Gefühl sehr wohl täuschen. Wenn man einem in Trance versetzten Menschen den Auftrag erteilt, eine Stunde nach dem Erwachen seine Reisetasche zu packen, wird er es tun. Ohne zu wissen, dass er hiemit nur einen posthypnotischen Auftrag ausführt, glaubt er, frei zu sein, und erfindet sogar gute Gründe dafür, weshalb er unverzüglich auf Reisen gehen muss.   

All diese Überlegungen lassen nur eine Schlussfolgerung zu: Wir können nichts dafür, dass wir sind, wie wir sind, und handeln, wie wir handeln. Wem ein genetisches Erbe und eine soziale Umwelt beschieden sind, die ihn vor einem Konflikt mit dem Gesetz bewahren, hat in der Lotterie des Lebens schlicht Glück gehabt. Und wem ein genetisches Erbe und eine soziale Umwelt mitgegeben sind, die ihn mit dem Gesetz in Konflikt geraten lassen, hat in der Lotterie des Lebens eben Pech gehabt. Ersteren dürfen wir beneiden, letzteren bedauern. Doch den einen zu verehren und den anderen zu verachten, ist ungerechtfertigt.  

Manch einem mag diese Argumentation zu simpel erscheinen. Es geht aber sogar noch weit einfacher: Nach allem, was wir wissen, sind menschliches Denken, Fühlen und Wollen Funktionen unseres Gehirns. Wie alle anderen Organe, so unterliegt selbstverständlich auch unser Gehirn dem Kausalitätsgesetz. Wenn es durchweg deterministisch arbeitet, dann kann für Freiheit und Verantwortung offensichtlich kein Raum sein. Doch selbst wenn unser Gehirn indeterministisch funktionierte und es neben kausalen Prozessen durchaus auch akausale geben sollte, bliebe für Freiheit und Verantworung kein Raum. Schließlich können wir für Handlungen, die sich buchstäblich dem Zufall verdanken, genauso wenig wie für Handlungen, die sich der Notwendigkeit verdanken. Ganz gleich also, ob unser Verhalten auf deterministischem oder indeterministischem Wege zustande gekommen sein mag – wir hätten so oder so nicht anders handeln können, als wir tatsächlich gehandelt haben.    

Genau an dieser Stelle tauchen die Fragen auf, die dem Problem der Willensfreiheit überhaupt erst ihre Brisanz verleihen: Wenn Menschen für ihr Verhalten nicht verantwortlich gemacht werden können, erscheinen Schuld und Strafe vollkommen ungerechtfertigt. Viele Menschen fragen sich daher besorgt: Bedeutet dies, dass wir jetzt nicht einmal mehr Mörder hinter Schloss und Riegel sperren dürfen? Was soll dann aber aus unserer Gesellschaft werden? Wäre dies nicht eine Absage an Moral und Recht? Ja, sogar ein Freibrief für Anarchie?

Nein! Wie etwa Norbert Hoerster, Henrik Walter und Gerhard Vollmer gezeigt haben, schließt der Abschied von Freiheit und Verantwortung keineswegs den Abschied von Recht und Ordnung ein. Um dies zu verstehen, müssen wir uns nur auf die eigentliche Funktion von Moral und Recht besinnen.

Anders als vielfach angenommen, beruhen moralische und rechtliche Normen weder auf göttlichen Geboten noch auf natürlichen Sittengesetzen, sondern einzig und allein auf menschlichen Interessen. Moralische und rechtliche Normen sind – ähnlich wie die Bestimmungen eines Vertrags zum gegenseitigen Vorteil – bloße Konventionen. Sie haben die ganz weltliche und zugleich äußerst wichtige Aufgabe, menschliche Interessenkonflikte zu lösen und zu einem friedlichen Zusammenleben beizutragen.

Um von einer Norm zu sagen, dass sie gerechtfertigt ist, muss gezeigt werden können, dass ihre Befolgung in unser aller Interesse ist. Von vielen Normen lässt sich dies ohne weiteres zeigen. Nehmen wir beispielsweise die Norm “Du sollst nicht töten!”: Jeder mag gelegentlich das Interesse haben, einen anderen zu töten. Weitaus größer als das Interesse, gelegentlich zu töten, ist jedoch unser Interesse, nicht selbst getötet zu werden. Da der Nachteil, nicht töten zu dürfen, von dem Vorteil, nicht getötet zu werden, mehr als aufgewogen wird, hat jeder von uns einen guten Grund, sich für ein allgemeines Tötungsverbot auszusprechen.

Dass ein generelles Tötungsverbot in unser aller Interesse ist, ist freilich noch keine Gewähr dafür, dass es auch tatsächlich von jedem befolgt wird. Schließlich steht immer zu befürchten, dass es einige Menschen geben wird, die sich zwar an dem Nutzen, nicht aber an den Kosten des Tötungsverbots beteiligen wollen. Um sicherzustellen, dass es wirklich von allen befolgt wird, ist es daher in jedermanns Interesse, das Tötungsverbot mit einer rechtlichen Sanktion zu versehen. Denn erst eine Sanktion wie der Freiheitsentzug kann für den Regelfall gewährleisten, dass das Tötungsverbot tatsächlich von niemandem verletzt wird.

Was hier vom Mord gezeigt worden ist, lässt sich auch von Diebstahl, Körperverletzung, Vergewaltigung und anderen Verbrechen zeigen. Ganz unabhängig davon, ob wir nun frei und verantwortlich sind, es ist offensichtlich in unser aller Interesse, dass wir Verhaltensweisen, die uns schaden, sanktionieren. Selbst für den, der in der Lotterie des Lebens Pech gehabt hatte und Gefahr läuft, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, ist unser Gesellschaftsvertrag immer noch ein Angebot, das er nicht ausschlagen kann. Denn dieselben Sanktionen, die ihm drohen, drohen schließlich auch anderen – und schützen damit auch ihn selbst!

Dass Menschen für ihr Tun nichts können, bedeutet also keineswegs das Ende von Recht und Ordnung. Doch muss sich nicht zumindest unser Verhalten gegenüber den Rechtsbrechern ändern? Dürfen wir sie weiter für „schuldig“ und „verantwortlich“ erklären, ihnen moralische Vorwürfe machen und sie guten Gewissens ins Gefängnis stecken?  

Manche Deterministen, die so genannten „Kompatibilisten“, sagen: Ja! So hat etwa der „Vater des Wiener Kreises“, der deutsche Physiker und Philosoph Moritz Schlick, behauptet, dass unsere gegenwärtige Praxis des Tadelns und Strafens durchaus gerechtfertigt sei. Da Menschen sich unsere Vorwürfe zu Herzen nehmen und ihr Verhalten danach ausrichten, sei es weiterhin sinnvoll, sie für ihr Tun moralisch zu verurteilen und strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

Schlick hat sicher recht, dass dies weiterhin „sinnvoll“ sein mag. Doch die Frage ist nicht, ob es gesellschaftlich sinnvoll ist, sondern ob es moralisch gerechtfertigt ist. Schließlich sind viele Dinge sinnvoll, aber deshalb noch lange nicht gerechtfertigt. Denken wir nur an die „Sippenhaft“: Dass sie die Zahl der Verbrechen zu reduzieren vermag, ist noch lange keine Rechtfertigung dafür, Unschuldige zu bestrafen.  

Ähnlich wie Schlick hat auch der Oxforder Philosoph Peter F. Strawson unsere gegenwärtige Strafpraxis zu verteidigen gesucht. Seiner Ansicht nach gehören unsere moralischen Gefühle wie etwa Empörung, Wut, Zorn, Hass und Verachtung so sehr zu unserer Natur, dass es schlicht und einfach aussichtslos sei, von Menschen zu erwarten, dass sie gegenüber Verbrechern Nachsicht und Milde walten lassen.

Strawson hat damit sicherlich nicht ganz unrecht. Die meisten Menschen reagieren auf ein Verbrechen in der Tat mit Zorn. Von den Opfern zu erwarten, dass sie ihre natürliche Entrüstung bezähmen, scheint etwas viel verlangt. Dennoch ist dieser Einwand nicht zwingend. Auch wenn dann und wann immer noch der Ruf nach dem Henker erschallen mag, haben die meisten Menschen ihre moralistischen Aggressionen doch heute weit besser im Griff als in vergangenen Jahrhunderten. Nicht nur die Prügelstrafe, sondern auch die Todesstrafe erscheint vielen Menschen mittlerweile einer zivilisierten Gesellschaft nicht würdig.  

Ein anschauliches Beispiel dafür, dass sich unsere emotionalen Reaktionen durchaus an empirischen Informationen orientieren können, bietet der berühmt gewordene Fall, über den der Neurologe Jeffrey Burns von der University of Virginia kürzlich berichtete: Ein unbescholtener Lehrer wurde im Alter von 40 Jahren plötzlich von pädophilen Neigungen überwältigt. Als sich herausstellte, dass diese unbezähmbaren Begierden von einem Tumor im orbifrontalen Kortex verursacht wurden, änderte die zunächst entrüstete Bevölkerung ihre Haltung sogleich – statt mit Vorwürfen reagierte sie mit Nachsicht.     

Wenn wir Rechtsbrechern aber nicht länger mit Verachtung begegnen dürfen, was sollen wir dann tun? Nun, das erste, was wir tun sollten, ist unsere Selbstgerechtigkeit aufgeben. Wie im Falle des pädophilen Lehrers müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass wir unter bestimmten Umständen alle mit dem Gesetz in Konflikt geraten können. Statt uns auf die Schulter zu klopfen, sollten wir daher einfach nur dem „Schicksal“ dankbar sein.

Dies kann aber selbstverständlich nicht alles sein. Einem Vorschlag des britischen Philosophen Jonathan Glover folgend, sollten wir noch einen erheblichen Schritt weiter gehen und unsere moralischen Urteile durch ästhetische Urteile ersetzen. Während moralische Urteile Verdienst voraussetzen, kommen ästhetische Urteile bekanntlich ohne sie aus. So bewundern wir etwa die Schönheit, den Charme oder die Intelligenz einer Person, obgleich uns durchaus bewusst ist, dass diese Reize nicht ihr Verdienst sind, sondern ihr einfach in die Wiege gelegt wurden.

Wie moralische Urteile so verfehlen auch ästhetische Urteile ihre Wirkung nicht. Menschen sind in aller Regel bemüht, als höflich, zuvorkommend, hilfsbereit, zuverlässig, verantwortungsbewusst, großzügig und fleißig zu gelten, und lassen sich nur ungern als faul, geizig, gehässig, gewissenlos, boshaft, niederträchtig und schadenfroh bezeichnen. Selbst wenn diese Bezeichnungen nicht moralisch-normativ, sondern lediglich ästhetisch-deskriptiv gemeint sind, lassen sich die allermeisten Menschen von diesen Urteilen doch beeinflussen.

Auch uns selbst gegenüber entfalten ästhetische Urteile ihre Wirkung. Angenommen, ich würde zu Geiz neigen. Auch wenn ich mir keinen Vorwurf daraus machen müsste, könnte ich es doch sehr wohl bedauern, so zu sein. Und da ich nicht im Ruf stehen wollte, ein Pfennigfuchser zu sein, hätte ich auch ein gutes Motiv, mein Verhalten zu ändern.  

Mancher mag den Eindruck haben, dass ästhetische Urteile die moralischen Urteile nicht wirklich ersetzen können. Schließlich scheinen moralische Unwerturteile eine weit stärkere soziale Wirkung zu erzielen als ästhetische Unwerturteile. Doch ich wage zu bezweifeln, dass dies ein Nachteil sein muss. Denn moralische Urteile gehen nicht nur mit sozialem Nutzen, sondern auch mit sozialen Kosten einher. Und der Zorn, die Wut und der Hass, mit denen wir anderen begegnen, hat sowohl in persönlichen als auch in politischen Beziehungen nur zu oft für vermeidbare Streitigkeiten und unnötiges Blutvergießen gesorgt.   

Für den einen oder anderen mag sich all dies wie die seichte Predigt eines unverbesserlichen Gutmenschen anhören. Verlangt unsere Gesellschaft nicht gerade, dass wir endlich härter durchgreifen? Dass wir mit Verbrechern nicht nachsichtiger, sondern unnachsichtiger umgehen? Nun, wer glaubt, dass der Determinismus nicht „tough on crime“, sondern „soft on crime“ sei, irrt sich. Der Determinismus unterscheidet lediglich zwischen dem Umgang mit Verbrechern und dem Umgang mit Verbrechen. So war es beispielsweise durchaus konsequent, als der von Schopenhauer beeinflusste Staatsanwalt und bekennende Determinist Fritz Bauer in den Frankfurter Auschwitz-Prozessen hart durchgegriffen hat. Sein Ziel war schließlich nicht, Vergeltung an den Tätern zu üben, sondern auch dem allerletzten Menschen zu zeigen, das es seinen Preis hat, sich an den Verbrechen eines Unrechtsregimes zu beteiligen. Und so gelang es ihm, ein wirksames Signal gegen die Verübung von Unmenschlichkeiten zu setzen.