Samstag, 29. Oktober 2016

Das verkaufte Geschlecht



Die guten, alten Zeiten, in denen der Geburtshelfer einer von den Wehen erschöpften Mutter mit strahlendem Lächeln verkünden konnte „Es ist ein Mädchen!“, scheinen nun endgültig vorbei. Dank eines neuen genetischen Tests kann jetzt jede Frau schon ab der 5. Schwangerschaftswoche erfahren, ob sie ihr Kinderzimmer blau oder rosa streichen sollte. Alles, was die werdenden Mütter hierfür tun müssen, ist, ihren Laptop einzuschalten, auf die Website von PregnancyStore.com zu gehen und sich für umgerechnet etwa 250 Euro den so genannten „Baby Gender Mentor“ zu bestellen. In diesem Test-Kit, der ihnen ohne zusätzliche Versandgebühren innerhalb von nur 24 Stunden zugestellt wird, finden sie einen Schwangerschaftstest, eine sterile Nadel, ein Blatt Litmuspapier und einen frankierten Rückumschlag von Federal Express. Ein kleiner Stich in den Finger und zwei Tropfen Blut auf das Papier genügen, um die Probe geradewegs an das Acu-Gen Labor in Lowell, Massachusetts, verschicken zu können. In lediglich 3 Tagen erhalten sie dann eine E-Mail, die ihnen mit einer kaum zu schlagenden Zuverlässigkeit von 99,9 Prozent das Geschlecht ihres Babys verrät. Für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich das Labor mit seinem Testergebnis irrt, gibt es eine „200 Prozent Geld-zurück-Garantie“. Mit anderen Worten: Wenn eine Frau, die 250 Euro für den Test ausgegeben hat, statt des angekündigten Mädchens einen Jungen zur Welt bringen sollte, bekommt sie 500 Euro zurück!



Was wie ein Angebot klingt, das man nicht ablehnen kann, sorgt in den Vereinigten Staaten derzeit für einen heftigen Streit. Wissenschaftlerinnen wie Diana Bianchi von der Tufts University, die bereits seit zwei Jahrzehnten an der Entwicklung eines DNA-Tests aus mütterlichem Blut arbeitet, bezweifeln die Zuverlässigkeit des Baby Gender Mentors. Insofern fetale Zellen nur in einem Verhältnis von etwa 1 zu 1 Million im mütterlichen Blut schwimmen, lassen sie sich nur mühevoll herausfischen. „Ich bin zuversichtlich, dass wir in nicht allzu ferner Zukunft Mittel und Wege finden werden, die es uns erlauben, kindliche Zellen aus dem mütterlichen Blut zu isolieren“, meint Bianchi. „Doch ich glaube, dass wir noch mindestens 5 Jahre davon entfernt sind“.

Joe Leigh Simpson vom Baylor College of Medicine in Houston ist ebenfalls skeptisch. Simpson, dem es bereits 1991 gelungen ist, fetale Zellen mit Hilfe eines Antikörpers namens CD71 zu isolieren und auf Trisomie 21 zu testen, hat sich mit dem Geschäftsführenden Direktor von Acu-Gen Biolab Inc., einem Mann namens Dr. C. N. Wang, in Verbindung gesetzt. „Auf seiner Website behauptet das Labor, den Baby Gender Mentor in einer 14-jährigen Versuchsreihe an mehr als 20,000 Babies getestet zu haben. Als ich höflich um die Zusendung der Ergebnisse der klinischen Studie bat, hieß es, dass man die Testergebnisse erst der Öffentlichkeit zugänglich machen werde, wenn man den Baby Gender Mentor patentiert habe. Ich lasse mich gerne eines Besseren belehren, doch für mich klingt das, ehrlich gesagt, nach einem Ausweichmanöver.“

Die breite Öffentlichkeit stört der Streit der Wissenschaftler wenig. Seit der Baby Gender Mentor von Holly Osburn aus Glastonbury in Connecticut in Amerikas beliebtester Fernsehsendung, der NBC Today Show, vor laufender Kamera getestet worden ist, sollen Tausende von Frauen den Test-Kit sogleich online bestellt haben. Sherry Bonelli, die Präsidentin von PregnancyStore.com, dem einzigen Vertreiber des Baby Gender Mentor, schaut denn auch voller Zuversicht in die Zukunft. Da in den USA jedes Jahr etwa 4 Millionen Babys zur Welt kommen und rund die Hälfte aller Mütter das Geschlecht ihres Kindes gerne im voraus erfahren möchte, darf sie sich auf einen Umsatz in Milliardenhöhe freuen. Auf die Zweifel der Wissenschaftler antwortet sie mit der lakonischen Bemerkung, dass sie doch nur neidisch auf Acu-Gen Lab seien.

Die amerikanischen Lebensschützer wie etwa „ProLife“ haben ganz andere Sorgen. Sie befürchten, dass der Baby Gender Mentor die Zahl der jährlichen Abtreibungen dramatisch erhöhen könnte. Viele Frauen, so argwöhnen sie, mögen ein enttäuschendes Testergebnis zum Anlass nehmen, einen selektiven Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. So könnten Paare, die sich auf einen Jungen gefreut hat, beispielsweise dazu ermuntert werden, ihr ungeborenes Kind abzutreiben, nur weil es ein Mädchen ist.

Diese Sorge scheint in der Tat nicht ganz unberechtigt. Denn wie die Ökonomen Gordon Dahl und Enrico Moretti vom National Bureau of Economic Research in Cambridge, Massachusetts, kürzlich gezeigt haben, hängen amerikanische Männer nach wie vor einem Stammhalter-Denken an. Bei der Auswertung US-amerikanischer Bevölkerungsstatistiken der letzten 60 Jahre haben die Forscher entdeckt, dass Ehen mit einer Tochter 5 Prozent häufiger geschieden werden als Ehen mit einem Sohn. Die Wahrscheinlichkeit einer Scheidung nimmt dabei mit der Zahl der Töchter noch zu. Ehen mit zwei Mädchen werden 8 Prozent häufiger geschieden als Ehen mit zwei Jungen. Und Ehen mit drei Töchtern werden 13 Prozent häufiger geschieden als Ehen mit drei Söhnen.  

Dass die unterschiedlichen Scheidungsraten tatsächlich auf einer männlichen Vorliebe für Stammhalter beruhen, wurde deutlich, als man sich die Sorgerechtsklagen der vergangenen zwanzig Jahre ansah. Geschiedene Männer sind weit häufiger bereit, vor Gericht zu ziehen und um das Sorgerecht für ihre Kinder zu kämpfen, wenn sie Söhne haben als wenn sie Töchter haben.

Den vielleicht schlagendsten Beweis dafür, dass Männer Söhne gegenüber Töchtern bevorzugen, lieferte eine Untersuchung so genannter „Shotgun Marriages“: Wenn unverheiratete Paare ein Baby erwarten und eine Ultraschalluntersuchung ergibt, dass es ein Junge ist, heiraten sie nachweislich häufiger als wenn es ein Mädchen ist.  Für einen Sohn, so scheint es, sind Männer weitaus eher bereit, ihre schwangere Freundin sogleich zum Altar zu führen.

Kathy Hudson, Direktorin des Genetics and Public Policy Center der Johns Hopkins University in Baltimore, fürchtet, dass diese Forschungsergebnisse weitreichende soziale Konsequenzen haben könnten. „Auf der Grundlage der Daten von Dahl und Morietti muss man davon ausgehen, dass viele Paare den Baby Gender Mentor dazu nutzen werden, um sich den Wunsch nach einem Stammhalter zu erfüllen. Wenn Jungen erst einmal das Gros der erstgeborenen Kinder ausmachen, werden mehr und mehr Mädchen mit dem Gefühl aufwachsen müssen, nur zweite Wahl zu sein.“

Nachdem der Baby Gender Mentor Anfang dieses Jahres den australischen und den britischen Markt erobert hat, ist es sicher nur eine Frage der Zeit, bis er auch den deutschen Markt erreichen wird. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin, Hans-Rudolf Tinneberg, sieht jedoch keinen Grund zur Beunruhigung. „Anders als in den Vereinigten Staaten besteht in Deutschland keinerlei Anlass zu der Annahme, dass Frauen ein vollkommen gesundes Baby abtreiben werden, nur weil es nicht dem von ihnen erhofften Geschlecht entspricht. Aus Repräsentativbefragungen, die unser Giessener Zentrum für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Auftrag gegeben hat, wissen wir, dass zwei Dritteln aller Deutschen das Geschlecht ihrer Kinder gleichgültig ist. Diejenigen, denen das Geschlecht nicht egal ist, wünschen sich Kinder beiderlei Geschlechts - zumeist einen Jungen und ein Mädchen.“

Nach Tinnebergs Studie, die in der aktuellen Ausgabe der amerikanischen Fachzeitschrift „Fertility and Sterility“ publiziert worden ist, unterscheiden sich Amerikaner und Deutsche vor allem hinsichtlich ihrer Hoffnung auf einen Stammhalter. Während sich in Deutschland nur noch 14 Prozent einen Jungen wünschen, sehnen sich in Amerika immer noch 39 Prozent nach einem erstgeborenen Sohn.

Wie eine noch unveröffentlichte Untersuchung von Tinnebergs Kollegen, der Gynäkologin Susanne Grüßner und dem Psychotherapeuten Burkhard Brosig, zeigt, mag das Stammhalter-Denken in Deutschland inzwischen sogar ganz der Vergangenheit angehören. Von 263 schwangeren Frauen, die vor ihrer ersten Ultraschalluntersuchung nach ihrer Geschlechterpräferenz befragt worden sind, wünschten sich 8 Prozent einen erstgeborenen Sohn und 18 Prozent eine erstgeborene Tochter.

Während die Einführung des Baby Gender Mentors in Deutschland wohl ohne gesellschaftliche Folgen bliebe, könnte sie in Indien geradezu verheerende soziale Konsequenzen haben. Nach Amartya Sen, dem indischen Ökonomie-Nobelpreisträger, fehlen weltweit etwa 100 Millionen Frauen. Allein 37 Millionen dieser „Missing Women“, wie er sie bezeichnet, entfallen auf Indien, wo Religion und Tradition seit Jahrhunderten für eine so ausgeprägte Bevorzugung von Söhnen gesorgt haben, dass jedes Jahr Tausende von Mädchen abgetrieben, ausgesetzt oder gar gleich nach der Geburt getötet werden.

Nach einer im Januar in der britischen Fachzeitschrift „The Lancet“ veröffentlichten Untersuchung von Prabhat Jha vom Center for Global Health Research in Toronto sollen allein in den letzten beiden Jahrzehnten in Indien 10 Millionen weiblicher Feten abgetrieben worden sein. Das bedeutete, dass jedes Jahr etwa eine halbe Million indischer Kinder nicht das Licht der Welt erblicken, nur weil sie Mädchen sind. Diese nahezu unglaubliche Zahl von selektiven Abtreibungen ist durch die Einführung der Ultraschalldiagnostik ermöglicht worden, die es den Müttern ab der 16. Schwangerschaftswoche erlaubt, sich das Geschlecht ihres ungeborenen Kindes bestimmen zu lassen. Die Kombination von pränataler Diagnostik und selektiver Abtreibung hat dazu geführt, dass in manchen indischen Bundesstaaten, wie etwa Punjab, Haryana oder Gujarat, auf 1000 Jungen heute nur noch 793 Mädchen geboren werden.

Mit dem Erlass des so genannten „Prenatal Diagnostic Techniques and Prohibition of Sex Selection Act“ hat das indische Parlament bereits 1996 die vorgeburtliche Geschlechtsbestimmung zu nicht-medizinischen Zwecken gesetzlich verboten. Ärzte, die dem Gesetz zuwider handeln, müssen mit einer Geldstrafe in Höhe von 50.000 Rupees, dem Entzug ihrer Approbation oder gar einer Gefängnishaft von 5 Jahren rechnen. Dennoch gehen die selektiven Abtreibungen nahezu unvermindert weiter. Offenbar sind die religiösen und ökonomischen Ursachen der Bevorzugung von Jungen zu tief im Alltag der meisten Inder verwurzelt.

Nach hinduistischem Glauben kann ein Mann nur dann in den Himmel der Seligen gelangen, wenn er einen Sohn hinterlässt, der die Totenopfer vollzieht. Wer es versäumt, einen männlichen Nachfahren zu zeugen, dem zürnen die Ahnen und der muss nach dem Tod in die Hölle hinabsteigen. Vielleicht noch viel entscheidender ist jedoch die Tradition der Mitgift. Die indische Sitte schreibt vor, dass die Eltern der Braut Geld an die Familie des Bräutigams zu zahlen haben. Um ihre Tochter zu verheiraten, müssen die Inder oft tief in die Tasche greifen. Die Mitgiftzahlungen reichen von 25.000 bis zu 500.000 Rupies. Dies entspricht durchschnittlich etwa drei Jahresgehältern. Eine oder gar mehrere Töchter unter die Haube zu bringen, kann für viele Inder daher den finanziellen Ruin bedeuten. Und genau diese Situation, mit Söhnen reich, mit Töchtern aber arm zu werden, hat dafür gesorgt, dass sich so viele Inderinnen heute zu einer Abtreibung weiblicher Feten entschliessen. Die Kliniken, die Ultraschalluntersuchungen zur Bestimmung des Geschlechts anbieten, locken ihre Kundschaft daher bezeichnenderweise auch mit dem Slogan „Investiere 500 Rupies jetzt, spare 50.000 Rupies später.“

Man hatte lange gehofft, dass eine bessere Ausbildung und gesteigerte Verdienstmöglichkeiten der Mädchen der traditionellen Bevorzugung von Jungen ein Ende bereiten werde. Doch wie die kürzlich erschienene Untersuchung von Jha zeigt, sind es vor allem die gut ausgebildeten und gut verdienenden Frauen in Indien, die von der Ultraschalldiagnostik und der selektiven Abtreibung weiblicher Feten Gebrauch machen. Frauen, die ein Abitur haben, treiben ein Mädchen etwa doppelt so häufig ab wie Frauen, die Analphabeten sind.

Diese indischen Frauen sind offensichtlich die perfekte Zielgruppe für die Marketingexperten von PregnancyStore.com. Acu-Gen Biolabs CEO, Dr. C. N. Wang, beteuert zwar, dass der Baby Gender Mentor nicht in Länder mit einer nachweislichen Bevorzugung von Jungen vertrieben werde. Doch was ist von dem Versprechen eines Mannes zu halten, der in einem anderen Zusammenhang gesagt haben soll: „Wir liefern lediglich die Information. Was die Paare mit dieser Information machen, ist allein ihre Verantwortung.“


Sonntag, 9. Oktober 2016

"Creation": Der liebe Gott und das Leid der Tiere






Charles Darwins „Evolution durch natürliche Selektion“ gilt weithin als die größte Idee in der Geschichte der Wissenschaft. Seit ihrem ersten Bekanntwerden im Jahre 1859 gilt sie aber zugleich auch als die vielleicht gefährlichste Idee aller Zeiten. Obgleich es mit Spinoza, Hobbes, La Mettrie, Hume, Voltaire oder d’Holbach durchaus schon eine Vielzahl von Skeptikern gab, glaubte die Mehrheit der Menschen zu dieser Zeit doch noch an die Bibel, wonach Gott diese Welt mitsamt aller ihrer Kreaturen in sieben Tagen geschaffen hat. 



Darwin, der in seiner Jugend an der University of Cambridge zunächst Theologie studiert hatte, war sich der Sprengkraft seiner Idee auch sehr wohl bewusst. Wenn seine Idee richtig war, sagte er sich, hätte er Gott gewissermaßen arbeitslos gemacht. Schließlich bedurfte es jetzt keines Schöpfers mehr, um die Vielfalt der Arten und die Zweckmäßigkeit der Natur zu erklären.

Einige Freunde Darwins gingen freilich noch entschieden weiter. Sie behaupteten allen Ernstes, dass er Gott getötet habe. Getauft als Anglikaner und verheiratet mit einer tiefgläubigen Unitarierin, bereitete ihm die Idee der Evolution über Jahre schwere Gewissensnöte.

Genau an dieser Stelle setzt Jon Amiels wunderbarer Film „Creation“ ein. Es zeigt, wenn auch in einer frei erfundenen Geschichte, wie Charles Darwin im Jahre 1858 von Skrupeln geplagt die Veröffentlichung seines Hauptwerkes immer wieder hinauszögert.

Hinzu kommt, dass Darwin nach dem Tod seiner ältesten Tochter „Annie“, die im zarten Alter von gerade einmal zehn Jahren von einem heimtückischen Fieber dahingerafft wird, in regelmäßigen Abständen unter Anfällen einer tiefen Schwermut leidet. 

In Rückblicken und Tagträumen spricht er mit „Annie“, deren aufgeweckten Geist und unerschöpfliche Neugierde ihm stets ein Quell der Freude waren. Aber ihr Ableben stellt Darwin vor das Theodizee-Problem: Wie kann ein barmherziger Gott all das Leid in dieser Welt zulassen?

Durch die Evolutiontheorie hat sich das Problem der Theodizee noch verschärft. Denn nun war die Welt nicht mehr nur einige tausend Jahre, sondern einige Milliarden Jahre alt. Und das hieß, dass es das Leid schon weit länger als den Menschen gab. Wie kann also ein vermeintlich allmächtiger, allwissender und allgütiger Gott das namenlose Leid der Tiere dulden?

In seiner erst posthum erschienenen Autobiographie schrieb Darwin denn auch: „Dass es viel Leid auf Erden gibt, bestreitet keiner. Man hat das – soweit es den Menschen betrifft – damit zu erklären versucht, dass es seiner sittlichen Besserung diene. Aber die Zahl der Menschen ist wie nichts im Vergleich mit der aller anderen fühlenden Wesen. Diese leiden oft erheblich ohne die Möglichkeit einer sittlichen Besserung. Ein Wesen, das so mächtig und kenntnisreich ist wie ein Gott, der das Universum erschaffen konnte, erscheint unserem begrenzten Geist allmächtig und allwissend, und es beleidigt unser Verständnis, dass sein Wohlwollen nicht unbegrenzt sein soll, denn was für einen Vorteil könnte das Leiden von Millionen niederer Tiere durch fast endlose Zeiten hindurch haben?“

Um sich ein Bild vom Leiden der Tiere zu machen, lohnt es, einen Absatz aus dem Werk eines zeitgenössischen Evolutionsbiologen zu zitieren. In seinem Buch „Und es entsprang ein Fluss in Eden“ schreibt Richard Dawkins: „Das Leiden hat in der Natur jedes Jahr ein Ausmaß, das alle erträglichen Vorstellungen übersteigt. In der Minute, in der ich diesen Satz niederschreibe, werden Tausende von Tieren bei lebendigem Leibe gefressen; andere laufen bebend vor Angst um ihr Leben; wieder andere werden langsam und von innen heraus durch gefräßige Parasiten zugrunde gerichtet. Tausende von Lebewesen aller Arten sterben an Hunger, Durst und Krankheiten.“

Charles Darwin, der im Film übrigens wunderbar von Paul Bettany verkörpert wird, war freilich nicht der erste, dem das Leid der Tiere als ein Einwand gegenüber der Güte Gottes erschien. So schloss sich beispielsweise schon der französische Philosoph Nicolas Malebranche bewusst der berühmt-berüchtigten Auffassung von René Descates an, wonach Tiere seelenlose Automaten seien, die keinerlei Gefühle kennen würden. Denn wie, so fragte er, sollte man sonst erklären, dass ein gerechter Gott unschuldige Tiere leiden lässt?

Inzwischen dürfte es wohl kaum noch jemanden geben, der bestreiten würde, dass zumindest höhere Lebewesen, wie insbesondere die Säugetiere, Schmerzen empfinden können. In einem neuen Versuch, das Leiden der Tiere mit der Güte Gottes in Einklang zu bringen, hat der Theologe Eugen Drewermann jedoch kürzlich einen ganz ähnlichen Weg beschritten. Er behauptet, dass Tiere, die in freier Wildbahn gerissen werden, nicht leiden. Seiner Ansicht nach versterben die Beutetiere bereits, bevor die Raubtiere sie zu zerfleischen beginnen. Sie sterben an einem, wie er es nennt, „Vagus-Tod“, einem plötzlichen Herzversagen, das im Zustand absoluter Ausweglosigkeit einzutreten pflege: „So kann eine Antilope sterben, noch ehe die Pranken der sie verfolgenden Löwin sich in ihr Fleisch schlagen.“

Ich will nicht in Abrede stellen, dass es solche Todesfälle geben mag. Doch wie jeder, der schon einmal eine Dokumentation über das Leben in der Serengeti gesehen hat, weiß, ist das keineswegs die Regel. Anders als Löwen sind Hyänen beispielsweise außerstande, ihre Opfer mit einem einzigen Biss zu töten. Zumeist dauert es zwanzig qualvolle Minuten, bis ein von einem Rudel von Hyänen zur Strecke gebrachtes Zebra endlich stirbt.

In seinem erwähnten Buch „Und es entsprang ein Fluss in Eden“ hat sich übrigens auch schon Richard Dawkins mit der Idee eines „Vagus-Todes“ beschäftigt: „Wäre die Natur freundlich“, schreibt er, „würde sie wenigstens ein kleines Zugeständnis machen und die Tiere betäuben, bevor sie bei lebendigem Leibe gefressen werden. Man könnte sich leicht ein Gen vorstellen, dass beispielsweise die Gazelle sediert, wenn sie im Begriff ist, den tödlichen Biss zu erleiden. Würde die natürliche Selektion ein solches Gen fördern? Nein, es sei denn, durch die Beruhigung der Gazelle steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Gen an zukünftige Generationen weitergegeben wird. Wie das geschehen soll, ist schwer zu erkennen, und deshalb müssen wir annehmen, dass Gazellen schreckliche Schmerzen und Ängste erdulden, wenn sie zu Tode gejagt werden – und dieses Schicksal steht den meisten von ihnen bevor.“    

Von all den christlichen Apologeten, die sich mit dem Theodizee-Problem auseinandergesetzt haben, hat sich wohl niemand so sehr mit der Frage nach dem Leid der Tiere beschäftigt wie der irische Literaturwissenschaftler und Schriftsteller C. S. Lewis. In seinem 1940 erschienenen Buch „Das Problem des Schmerzes“ hat er den Tieren ein ganzes Kapitel gewidmet. Gleich im ersten Absatz stellte er die theologische Herausforderung durch das Leiden der Tiere in aller Fairness dar:

„Die ganze Zeit aber dringt eine Klage von unverschuldetem Weh durch die Wolken, weil die christliche Deutung des menschlichen Schmerzes nicht auf den Schmerz der Tiere ausgedehnt werden kann. Soweit wir wissen, sind Tiere weder der Sünde noch der Tugend fähig; und also leiden sie weder zu Recht, noch können sie durch Leid gebessert werden.“

Nahezu ein Jahrhundert nach Charles Darwins „Die Entstehung der Arten“ lehnt Lewis auch den Gedanken ab, dass das Leiden der Tiere eine Folge der Erbsünde und Adams Fall sei:

„Dies ist nicht mehr möglich; denn wir haben guten Grund anzunehmen, dass die Tiere lange vor den Menschen existiert haben. Fleischfresserei mit allem, was daraus folgt, ist älter als die Menschheit.“

Obgleich sich Lewis davor scheut, die Erbsünde ins Spiel zu bringen, nimmt er seine Zuflucht dann aber letztlich doch bei „Satan“ und der „Macht der Finsternis“:

„Gibt es, wie ich glaube, eine solche Macht, dann ist es durchaus möglich, dass sie die Schöpfungsordnung der Tiere schon vor dem Auftreten des Menschen verdorben hat.“  

Gewiss ist dies möglich! Doch philosophisch ist es eine reine ad hoc Annahme. Hier wird einfach an die „Macht der Finsternis“ appelliert, ohne auch nur den geringsten Versuch zu unternehmen, deren Existenz zuallererst zu begründen. Noch wird die Frage angesprochen, weshalb der Schöpfer einem übelwollenden Teufel eigentlich Macht über seine Kreaturen einräumen sollte.

Lewis scheint sich der Schwäche seines Arguments denn auch bewusst zu sein, wenn er schließlich sogar über die „Unsterblichkeit der Tiere“ zu spekulieren beginnt. Doch dass Gott sich genötigt fühlen sollte, die Tiere im Himmel für ihr Leiden auf Erden zu entschädigen, kommt freilich einer Kapitulation vor dem Theodizee-Problem gleich.

Ein metaphysikfreier Versuch einer Theodizee ist unlängst von dem britischen Philosophen Michael Ruse unternommen worden. Obgleich selbst Atheist, hat sich Ruse in den vergangenen Jahren mehr und mehr zu einem Gegenspieler von Dawkins entwickelt. Dessen Buch „Der Gotteswahn“ kommentierte er mit der Bemerkung, dass es eine „Schande für den Atheismus“ sei. In seinem Buch „Can A Darwinian Be A Christian?“ versucht Ruse denn auch Dawkins mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Hierzu greift er Dawkins’ Bemerkung auf, dass, wo auch immer wir im Universum auf Leben stoßen sollten, es sich dem Prozess der Evolution durch natürliche Selektion verdanken werde.

Geradezu triumphierend behauptet Ruse, dass Dawkins mit dieser Bemerkung den Christen unfreiwillig in die Hände gespielt habe: Denn wenn es keine Alternative zur Evolution gebe, habe Gott selbstverständlich auch keine andere Wahl gehabt, als seine Schöpfung den Gesetzen von Mutation und Selektion zu unterwerfen. Dass die Tiere einer „Natur mit Zähnen und Klauen blutigrot“ ausgeliefert sind, sei daher einfach der unvermeidliche Preis der Schöpfung.

Doch dies ist natürlich ein billiger Trick. Dawkins hat nie behauptet, dass es überhaupt keine Alternative zur Evolution gebe. Er hat lediglich gesagt, dass, wo auch immer Leben von selbst entsteht, es sich sicher unter denselben Darwinschen Gesetzmäßigkeiten entwickelt haben wird wie das Leben auf unserer Erde. Davon, dass selbst ein allwissender Gott auf die Evolution durch natürliche Selektion angewiesen sein würde, war nie die Rede. Zu behaupten, dass Gott außerstande gewesen sei, eine Natur zu schaffen, in der es kein Gesetz des Fressens und Gefressenwerdens gebe, ist erneut eine reine ad hoc Behauptung.

In einem Interview mit der BBC ist der bekannte Tierfilmer Sir David Attenborough einmal gefragt worden, wie er es mit der Religion halte. Denn in keiner seiner Dokumentationen habe er je das Wort „Schöpfer“ gebraucht. Attenborough antwortete, dass er keineswegs blind für die Schönheit der Natur sei. Doch neben den Orchideen, den Schmetterlingen und den Paradiesvögeln sehe er auch einen dreijährigen Jungen in Westafrika, dessen Augapfel von einem Wurm durchbohrt werde und ihn erblinden lasse, bevor er das fünfte Lebensjahr erreicht. „Bereits die Existenz solch parasitärer Würmer scheint mir gegen die Idee eines barmherzigen Schöpfers zu sprechen.“ 

Attenboroughs Antwort erinnert stark an eine Aussage Darwins. In einem Brief an seinen Freund Asa Gray schrieb er einmal: „Ich kann mich nicht zu der Ansicht überreden, dass ein wohlmeinender und allmächtiger Gott die Ichneumonidae ausgerechnet mit der Absicht geschaffen haben soll, dass sie sich im lebenden Körper von Raupen ernähren.“ Die Ichneumonidae sind eine Klasse parasitärer Wespen. Mit einem gezielten Stich lähmen sie die motorischen, nicht aber die sensorischen Nerven einer Raupe, um dann ihre Eier darin abzulegen. Wenn die Larven schlüpfen, fressen sie sich ihren Weg durch den lebenden Körper ihres Wirts.

Wir wissen nicht, ob Raupen Schmerz empfinden können. Doch ich glaube der Grund, weshalb Darwin das Beispiel der Ichneumoniden gewählt hatte, bestand auch nicht darin, zu zeigen, wie sehr Tiere leiden, sondern darin, welche Rückschlüsse wir auf den Charakter des Schöpfers ziehen müssten, wenn wir in der Natur ein Werk Gottes erblicken wollten: Was sagt die Schöpfung von Parasiten, die ihren Wirt von innen auffressen, über den Schöpfer aus?

Die Theologen können sich daher also auch drehen und wenden, wie sie wollen, eine Natur mit Viren, Bakterien und Parasiten, die nicht nur über Menschen, sondern auch über Tiere herfallen, lässt sich einfach nicht mit dem Glauben an einen fürsorgenden und barmherzigen Gott vereinbaren. Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass der Darwinismus den Theismus widerlegt hätte. Keineswegs! Es ist nach wie vor möglich, an einen Schöpfer zu glauben. Doch von diesem Schöpfer ließe sich vieles sagen – dass er gleichgültig, launisch, erbarmungslos, grausam oder gar zynisch sei –, nur eines mit Sicherheit nicht: dass er gütig sei!

Und dies war letztlich auch die Ansicht von Charles Darwin. Seine Idee der Evolution hat ihn nicht zu einem Atheisten, sondern lediglich zu einem Agnostiker werden lassen, der sich bis an sein Lebensende mit der Gottesfrage quälte.

Ein Grund für diese Qual wird im Film „Creation“ denn auch sehr eindringlich dargestellt: Seine Frau Emma, gespielt von Jennifer Conelly, liebt Charles so sehr, dass es ihr förmlich Schmerzen bereitet, sich vorzustellen, dass sie wegen seiner Zweifel im nächsten Leben vielleicht nicht zusammen sein sollten.