Die guten, alten Zeiten,
in denen der Geburtshelfer einer von den Wehen erschöpften Mutter mit
strahlendem Lächeln verkünden konnte „Es ist ein Mädchen!“, scheinen nun
endgültig vorbei. Dank eines neuen genetischen Tests kann jetzt jede Frau schon
ab der 5. Schwangerschaftswoche erfahren, ob sie ihr Kinderzimmer blau oder
rosa streichen sollte. Alles, was die werdenden Mütter hierfür tun müssen, ist,
ihren Laptop einzuschalten, auf die Website von PregnancyStore.com zu gehen und
sich für umgerechnet etwa 250 Euro den so genannten „Baby Gender Mentor“ zu
bestellen. In diesem Test-Kit, der ihnen ohne zusätzliche Versandgebühren
innerhalb von nur 24 Stunden zugestellt wird, finden sie einen Schwangerschaftstest,
eine sterile Nadel, ein Blatt Litmuspapier und einen frankierten Rückumschlag
von Federal Express. Ein kleiner Stich in den Finger und zwei Tropfen Blut auf
das Papier genügen, um die Probe geradewegs an das Acu-Gen Labor in Lowell,
Massachusetts, verschicken zu können. In lediglich 3 Tagen erhalten sie dann
eine E-Mail, die ihnen mit einer kaum zu schlagenden Zuverlässigkeit von 99,9
Prozent das Geschlecht ihres Babys verrät. Für den unwahrscheinlichen Fall,
dass sich das Labor mit seinem Testergebnis irrt, gibt es eine „200 Prozent
Geld-zurück-Garantie“. Mit anderen Worten: Wenn eine Frau, die 250 Euro für den
Test ausgegeben hat, statt des angekündigten Mädchens einen Jungen zur Welt
bringen sollte, bekommt sie 500 Euro zurück!
Was wie ein Angebot
klingt, das man nicht ablehnen kann, sorgt in den Vereinigten Staaten derzeit
für einen heftigen Streit. Wissenschaftlerinnen wie Diana Bianchi von der Tufts
University, die bereits seit zwei Jahrzehnten an der Entwicklung eines
DNA-Tests aus mütterlichem Blut arbeitet, bezweifeln die Zuverlässigkeit des
Baby Gender Mentors. Insofern fetale Zellen nur in einem Verhältnis von etwa 1
zu 1 Million im mütterlichen Blut schwimmen, lassen sie sich nur mühevoll
herausfischen. „Ich bin zuversichtlich, dass wir in nicht allzu ferner Zukunft
Mittel und Wege finden werden, die es uns erlauben, kindliche Zellen aus dem
mütterlichen Blut zu isolieren“, meint Bianchi. „Doch ich glaube, dass wir noch
mindestens 5 Jahre davon entfernt sind“.
Joe Leigh Simpson vom
Baylor College of Medicine in Houston ist ebenfalls skeptisch. Simpson, dem es
bereits 1991 gelungen ist, fetale Zellen mit Hilfe eines Antikörpers namens
CD71 zu isolieren und auf Trisomie 21 zu testen, hat sich mit dem Geschäftsführenden
Direktor von Acu-Gen Biolab Inc., einem Mann namens Dr. C. N. Wang, in Verbindung
gesetzt. „Auf seiner Website behauptet das Labor, den Baby Gender Mentor in einer
14-jährigen Versuchsreihe an mehr als 20,000 Babies getestet zu haben. Als ich
höflich um die Zusendung der Ergebnisse der klinischen Studie bat, hieß es,
dass man die Testergebnisse erst der Öffentlichkeit zugänglich machen werde,
wenn man den Baby Gender Mentor patentiert habe. Ich lasse mich gerne eines
Besseren belehren, doch für mich klingt das, ehrlich gesagt, nach einem Ausweichmanöver.“
Die breite Öffentlichkeit
stört der Streit der Wissenschaftler wenig. Seit der Baby Gender Mentor von
Holly Osburn aus Glastonbury in Connecticut in Amerikas beliebtester Fernsehsendung,
der NBC Today Show, vor laufender Kamera getestet worden ist, sollen Tausende
von Frauen den Test-Kit sogleich online bestellt haben. Sherry Bonelli, die
Präsidentin von PregnancyStore.com, dem einzigen Vertreiber des Baby Gender
Mentor, schaut denn auch voller Zuversicht in die Zukunft. Da in den USA jedes
Jahr etwa 4 Millionen Babys zur Welt kommen und rund die Hälfte aller Mütter
das Geschlecht ihres Kindes gerne im voraus erfahren möchte, darf sie sich auf
einen Umsatz in Milliardenhöhe freuen. Auf die Zweifel der Wissenschaftler
antwortet sie mit der lakonischen Bemerkung, dass sie doch nur neidisch auf
Acu-Gen Lab seien.
Die amerikanischen
Lebensschützer wie etwa „ProLife“ haben ganz andere Sorgen. Sie befürchten,
dass der Baby Gender Mentor die Zahl der jährlichen Abtreibungen dramatisch
erhöhen könnte. Viele Frauen, so argwöhnen sie, mögen ein enttäuschendes Testergebnis
zum Anlass nehmen, einen selektiven Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. So
könnten Paare, die sich auf einen Jungen gefreut hat, beispielsweise dazu
ermuntert werden, ihr ungeborenes Kind abzutreiben, nur weil es ein Mädchen
ist.
Diese Sorge scheint in der
Tat nicht ganz unberechtigt. Denn wie die Ökonomen Gordon Dahl und Enrico
Moretti vom National Bureau of Economic Research in Cambridge, Massachusetts,
kürzlich gezeigt haben, hängen amerikanische Männer nach wie vor einem Stammhalter-Denken
an. Bei der Auswertung US-amerikanischer Bevölkerungsstatistiken der letzten 60
Jahre haben die Forscher entdeckt, dass Ehen mit einer Tochter 5 Prozent
häufiger geschieden werden als Ehen mit einem Sohn. Die Wahrscheinlichkeit
einer Scheidung nimmt dabei mit der Zahl der Töchter noch zu. Ehen mit zwei
Mädchen werden 8 Prozent häufiger geschieden als Ehen mit zwei Jungen. Und Ehen
mit drei Töchtern werden 13 Prozent häufiger geschieden als Ehen mit drei
Söhnen.
Dass
die unterschiedlichen Scheidungsraten tatsächlich auf einer männlichen Vorliebe
für Stammhalter beruhen, wurde deutlich, als man sich die Sorgerechtsklagen der
vergangenen zwanzig Jahre ansah. Geschiedene Männer sind weit häufiger bereit,
vor Gericht zu ziehen und um das Sorgerecht für ihre Kinder zu kämpfen, wenn
sie Söhne haben als wenn sie Töchter haben.
Den vielleicht
schlagendsten Beweis dafür, dass Männer Söhne gegenüber Töchtern bevorzugen,
lieferte eine Untersuchung so genannter „Shotgun Marriages“: Wenn unverheiratete
Paare ein Baby erwarten und eine Ultraschalluntersuchung ergibt, dass es ein Junge
ist, heiraten sie nachweislich häufiger als wenn es ein Mädchen ist. Für einen Sohn, so scheint es, sind Männer
weitaus eher bereit, ihre schwangere Freundin sogleich zum Altar zu führen.
Kathy
Hudson, Direktorin des Genetics and Public Policy Center der Johns Hopkins University
in Baltimore, fürchtet, dass diese Forschungsergebnisse weitreichende soziale
Konsequenzen haben könnten. „Auf der Grundlage der Daten von Dahl und Morietti
muss man davon ausgehen, dass viele Paare den Baby Gender Mentor dazu nutzen werden,
um sich den Wunsch nach einem Stammhalter zu erfüllen. Wenn Jungen erst einmal
das Gros der erstgeborenen Kinder ausmachen, werden mehr und mehr Mädchen mit
dem Gefühl aufwachsen müssen, nur zweite Wahl zu sein.“
Nachdem der Baby Gender
Mentor Anfang dieses Jahres den australischen und den britischen Markt erobert
hat, ist es sicher nur eine Frage der Zeit, bis er auch den deutschen Markt
erreichen wird. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin,
Hans-Rudolf Tinneberg, sieht jedoch keinen Grund zur Beunruhigung. „Anders als
in den Vereinigten Staaten besteht in Deutschland keinerlei Anlass zu der
Annahme, dass Frauen ein vollkommen gesundes Baby abtreiben werden, nur weil es
nicht dem von ihnen erhofften Geschlecht entspricht. Aus Repräsentativbefragungen,
die unser Giessener Zentrum für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Auftrag gegeben
hat, wissen wir, dass zwei Dritteln aller Deutschen das Geschlecht ihrer Kinder
gleichgültig ist. Diejenigen, denen das Geschlecht nicht egal ist, wünschen
sich Kinder beiderlei Geschlechts - zumeist einen Jungen und ein Mädchen.“
Nach Tinnebergs Studie,
die in der aktuellen Ausgabe der amerikanischen Fachzeitschrift „Fertility and
Sterility“ publiziert worden ist, unterscheiden sich Amerikaner und Deutsche
vor allem hinsichtlich ihrer Hoffnung auf einen Stammhalter. Während sich in
Deutschland nur noch 14 Prozent einen Jungen wünschen, sehnen sich in Amerika immer
noch 39 Prozent nach einem erstgeborenen Sohn.
Wie eine noch
unveröffentlichte Untersuchung von Tinnebergs Kollegen, der Gynäkologin Susanne
Grüßner und dem Psychotherapeuten Burkhard Brosig, zeigt, mag das Stammhalter-Denken
in Deutschland inzwischen sogar ganz der Vergangenheit angehören. Von 263
schwangeren Frauen, die vor ihrer ersten Ultraschalluntersuchung nach ihrer
Geschlechterpräferenz befragt worden sind, wünschten sich 8 Prozent einen erstgeborenen
Sohn und 18 Prozent eine erstgeborene Tochter.
Während die Einführung des
Baby Gender Mentors in Deutschland wohl ohne gesellschaftliche Folgen bliebe,
könnte sie in Indien geradezu verheerende soziale Konsequenzen haben. Nach
Amartya Sen, dem indischen Ökonomie-Nobelpreisträger, fehlen weltweit etwa 100
Millionen Frauen. Allein 37 Millionen dieser „Missing Women“, wie er sie
bezeichnet, entfallen auf Indien, wo Religion und Tradition seit Jahrhunderten
für eine so ausgeprägte Bevorzugung von Söhnen gesorgt haben, dass jedes Jahr
Tausende von Mädchen abgetrieben, ausgesetzt oder gar gleich nach der Geburt
getötet werden.
Nach
einer im Januar in der britischen Fachzeitschrift „The Lancet“ veröffentlichten
Untersuchung von Prabhat Jha vom Center for Global Health Research in Toronto
sollen allein in den letzten beiden Jahrzehnten in Indien 10 Millionen weiblicher
Feten abgetrieben worden sein. Das bedeutete, dass jedes Jahr etwa eine halbe
Million indischer Kinder nicht das Licht der Welt erblicken, nur weil sie
Mädchen sind. Diese nahezu unglaubliche Zahl von selektiven Abtreibungen ist
durch die Einführung der Ultraschalldiagnostik ermöglicht worden, die es den
Müttern ab der 16. Schwangerschaftswoche erlaubt, sich das Geschlecht ihres ungeborenen
Kindes bestimmen zu lassen. Die Kombination von pränataler Diagnostik und
selektiver Abtreibung hat dazu geführt, dass in manchen indischen Bundesstaaten,
wie etwa Punjab, Haryana oder Gujarat, auf 1000 Jungen heute nur noch 793
Mädchen geboren werden.
Mit
dem Erlass des so genannten „Prenatal Diagnostic Techniques and Prohibition of
Sex Selection Act“ hat das indische Parlament bereits 1996 die vorgeburtliche Geschlechtsbestimmung
zu nicht-medizinischen Zwecken gesetzlich verboten. Ärzte, die dem Gesetz
zuwider handeln, müssen mit einer Geldstrafe in Höhe von 50.000 Rupees, dem
Entzug ihrer Approbation oder gar einer Gefängnishaft von 5 Jahren rechnen.
Dennoch gehen die selektiven Abtreibungen nahezu unvermindert weiter. Offenbar
sind die religiösen und ökonomischen Ursachen der Bevorzugung von Jungen zu
tief im Alltag der meisten Inder verwurzelt.
Nach
hinduistischem Glauben kann ein Mann nur dann in den Himmel der Seligen gelangen,
wenn er einen Sohn hinterlässt, der die Totenopfer vollzieht. Wer es versäumt,
einen männlichen Nachfahren zu zeugen, dem zürnen die Ahnen und der muss nach
dem Tod in die Hölle hinabsteigen. Vielleicht noch viel entscheidender ist
jedoch die Tradition der Mitgift. Die indische Sitte schreibt vor, dass die
Eltern der Braut Geld an die Familie des Bräutigams zu zahlen haben. Um ihre
Tochter zu verheiraten, müssen die Inder oft tief in die Tasche greifen. Die
Mitgiftzahlungen reichen von 25.000 bis zu 500.000 Rupies. Dies entspricht durchschnittlich
etwa drei Jahresgehältern. Eine oder gar mehrere Töchter unter die Haube zu
bringen, kann für viele Inder daher den finanziellen Ruin bedeuten. Und genau
diese Situation, mit Söhnen reich, mit Töchtern aber arm zu werden, hat dafür
gesorgt, dass sich so viele Inderinnen heute zu einer Abtreibung weiblicher Feten
entschliessen. Die Kliniken, die Ultraschalluntersuchungen zur Bestimmung des
Geschlechts anbieten, locken ihre Kundschaft daher bezeichnenderweise auch mit
dem Slogan „Investiere 500 Rupies jetzt, spare 50.000 Rupies später.“
Man
hatte lange gehofft, dass eine bessere Ausbildung und gesteigerte Verdienstmöglichkeiten
der Mädchen der traditionellen Bevorzugung von Jungen ein Ende bereiten werde.
Doch wie die kürzlich erschienene Untersuchung von Jha zeigt, sind es vor allem
die gut ausgebildeten und gut verdienenden Frauen in Indien, die von der
Ultraschalldiagnostik und der selektiven Abtreibung weiblicher Feten Gebrauch machen.
Frauen, die ein Abitur haben, treiben ein Mädchen etwa doppelt so häufig ab wie
Frauen, die Analphabeten sind.
Diese
indischen Frauen sind offensichtlich die perfekte Zielgruppe für die Marketingexperten
von PregnancyStore.com. Acu-Gen Biolabs CEO, Dr. C. N. Wang, beteuert zwar,
dass der Baby Gender Mentor nicht in Länder mit einer nachweislichen Bevorzugung
von Jungen vertrieben werde. Doch was ist von dem Versprechen eines Mannes zu
halten, der in einem anderen Zusammenhang gesagt haben soll: „Wir liefern
lediglich die Information. Was die Paare mit dieser Information machen, ist
allein ihre Verantwortung.“