Mittwoch, 14. September 2016

Jenseits von Schuld und Sühne



In seiner 1872 gehaltenen Rede über „Die Grenzen des Naturerkennens“ erklärte der deutsche Physiologe Emil Du Bois-Reymond das Problem der Freiheit des menschlichen Willens für unlösbar. „Ignoramus et Ignorabimus“: „Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen“, lautete sein ernüchterndes Urteil.

Wie jeder wissenschaftstheoretisch geschulte Philosoph zugeben wird, hatte der Mediziner mit seiner Diagnose durchaus Recht. Wie bei der Frage nach Gott oder der Seele haben wir es bei der Willensfreiheit mit einem schier unlösbaren Problem zu tun. Unlösbar, weil sich Existenzaussagen nicht widerlegen und Nichtexistenzaussagen nicht beweisen lassen.

Dies ist jedoch alles andere als ein Grund zur Resignation. Denn wenn wir die Willensfreiheit auch weder zu beweisen noch zu widerlegen vermögen, können wir doch sehr wohl das Problem lösen, das sich hinter ihr verbirgt. Dass uns die Willensfreiheit so stark beschäftigt, liegt schließlich vor allem daran, dass wir wissen wollen, ob wir Menschen für ihre Handlungen moralisch verantwortlich machen können.  



Ob Menschen für das, was sie tun, Lob und Tadel verdienen, ist jedoch viel einfacher zu klären, als gemeinhin angenommen. Gott, Freud und Libet zum Trotz bedarf es hierzu weder der Messung von neuronalen Aktionspotenzialen noch der Auswertung von Aufnahmen eines Magnetresonanztomographen. Die Frage, ob wir unsere Mitmenschen für ihr Tun und Lassen zur Verantwortung ziehen dürfen, lässt sich nämlich sogar a priori verneinen.

Die hierzu erforderliche Überlegung, die den Köpfen von Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche und Galen Strawson entstammt, ist dabei ebenso einfach wie bestechend: Wir tun, was wir tun, weil wir sind, wie wir sind. Dass wir sind, wie wir sind, ist weder unsere Schuld noch unser Verdienst. Denn so, wie wir uns nicht ausssuchen konnten, geboren zu werden, so konnten wir uns auch nicht aussuchen, mit welchem genetischen Erbe und in welche soziale Umwelt wir geboren werden. Da wir also keinerlei Kontrolle über unsere Geburt, unser Erbe und unsere Umwelt hatten, können wir auch nicht dafür verantwortlich sein, dass wir sind, wie wir sind.

Gewiss, Menschen können ihr Verhalten ändern. Doch ob sie dazu wirklich in der Lage sind, ist wieder eine Frage von Erbe und Umwelt. Den einen ist es gegeben, den anderen ist es verwehrt. Insofern allein Erbe und Umwelt entscheiden, ist es also letztlich eine Sache von Glück und Pech. Wenn aber bloßes Glück und Pech entscheiden, kann man Menschen auch keinen Vorwurf daraus machen, dass sie sind, wie sie sind, und dass sie handeln, wie sie handeln.

„Aber wir haben doch das Gefühl, frei zu sein!“, wird man einwenden. Sicher, dieses Gefühl haben viele; doch auf dieses Gefühl können wir uns nachweislich nicht verlassen. Denn wie spätestens die Hypnose gezeigt hat, kann dieses Gefühl sehr wohl täuschen. Wenn man einem in Trance versetzten Menschen den Auftrag erteilt, eine Stunde nach dem Erwachen seine Reisetasche zu packen, wird er es tun. Ohne zu wissen, dass er hiemit nur einen posthypnotischen Auftrag ausführt, glaubt er, frei zu sein, und erfindet sogar gute Gründe dafür, weshalb er unverzüglich auf Reisen gehen muss.   

All diese Überlegungen lassen nur eine Schlussfolgerung zu: Wir können nichts dafür, dass wir sind, wie wir sind, und handeln, wie wir handeln. Wem ein genetisches Erbe und eine soziale Umwelt beschieden sind, die ihn vor einem Konflikt mit dem Gesetz bewahren, hat in der Lotterie des Lebens schlicht Glück gehabt. Und wem ein genetisches Erbe und eine soziale Umwelt mitgegeben sind, die ihn mit dem Gesetz in Konflikt geraten lassen, hat in der Lotterie des Lebens eben Pech gehabt. Ersteren dürfen wir beneiden, letzteren bedauern. Doch den einen zu verehren und den anderen zu verachten, ist ungerechtfertigt.  

Manch einem mag diese Argumentation zu simpel erscheinen. Es geht aber sogar noch weit einfacher: Nach allem, was wir wissen, sind menschliches Denken, Fühlen und Wollen Funktionen unseres Gehirns. Wie alle anderen Organe, so unterliegt selbstverständlich auch unser Gehirn dem Kausalitätsgesetz. Wenn es durchweg deterministisch arbeitet, dann kann für Freiheit und Verantwortung offensichtlich kein Raum sein. Doch selbst wenn unser Gehirn indeterministisch funktionierte und es neben kausalen Prozessen durchaus auch akausale geben sollte, bliebe für Freiheit und Verantworung kein Raum. Schließlich können wir für Handlungen, die sich buchstäblich dem Zufall verdanken, genauso wenig wie für Handlungen, die sich der Notwendigkeit verdanken. Ganz gleich also, ob unser Verhalten auf deterministischem oder indeterministischem Wege zustande gekommen sein mag – wir hätten so oder so nicht anders handeln können, als wir tatsächlich gehandelt haben.    

Genau an dieser Stelle tauchen die Fragen auf, die dem Problem der Willensfreiheit überhaupt erst ihre Brisanz verleihen: Wenn Menschen für ihr Verhalten nicht verantwortlich gemacht werden können, erscheinen Schuld und Strafe vollkommen ungerechtfertigt. Viele Menschen fragen sich daher besorgt: Bedeutet dies, dass wir jetzt nicht einmal mehr Mörder hinter Schloss und Riegel sperren dürfen? Was soll dann aber aus unserer Gesellschaft werden? Wäre dies nicht eine Absage an Moral und Recht? Ja, sogar ein Freibrief für Anarchie?

Nein! Wie etwa Norbert Hoerster, Henrik Walter und Gerhard Vollmer gezeigt haben, schließt der Abschied von Freiheit und Verantwortung keineswegs den Abschied von Recht und Ordnung ein. Um dies zu verstehen, müssen wir uns nur auf die eigentliche Funktion von Moral und Recht besinnen.

Anders als vielfach angenommen, beruhen moralische und rechtliche Normen weder auf göttlichen Geboten noch auf natürlichen Sittengesetzen, sondern einzig und allein auf menschlichen Interessen. Moralische und rechtliche Normen sind – ähnlich wie die Bestimmungen eines Vertrags zum gegenseitigen Vorteil – bloße Konventionen. Sie haben die ganz weltliche und zugleich äußerst wichtige Aufgabe, menschliche Interessenkonflikte zu lösen und zu einem friedlichen Zusammenleben beizutragen.

Um von einer Norm zu sagen, dass sie gerechtfertigt ist, muss gezeigt werden können, dass ihre Befolgung in unser aller Interesse ist. Von vielen Normen lässt sich dies ohne weiteres zeigen. Nehmen wir beispielsweise die Norm “Du sollst nicht töten!”: Jeder mag gelegentlich das Interesse haben, einen anderen zu töten. Weitaus größer als das Interesse, gelegentlich zu töten, ist jedoch unser Interesse, nicht selbst getötet zu werden. Da der Nachteil, nicht töten zu dürfen, von dem Vorteil, nicht getötet zu werden, mehr als aufgewogen wird, hat jeder von uns einen guten Grund, sich für ein allgemeines Tötungsverbot auszusprechen.

Dass ein generelles Tötungsverbot in unser aller Interesse ist, ist freilich noch keine Gewähr dafür, dass es auch tatsächlich von jedem befolgt wird. Schließlich steht immer zu befürchten, dass es einige Menschen geben wird, die sich zwar an dem Nutzen, nicht aber an den Kosten des Tötungsverbots beteiligen wollen. Um sicherzustellen, dass es wirklich von allen befolgt wird, ist es daher in jedermanns Interesse, das Tötungsverbot mit einer rechtlichen Sanktion zu versehen. Denn erst eine Sanktion wie der Freiheitsentzug kann für den Regelfall gewährleisten, dass das Tötungsverbot tatsächlich von niemandem verletzt wird.

Was hier vom Mord gezeigt worden ist, lässt sich auch von Diebstahl, Körperverletzung, Vergewaltigung und anderen Verbrechen zeigen. Ganz unabhängig davon, ob wir nun frei und verantwortlich sind, es ist offensichtlich in unser aller Interesse, dass wir Verhaltensweisen, die uns schaden, sanktionieren. Selbst für den, der in der Lotterie des Lebens Pech gehabt hatte und Gefahr läuft, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, ist unser Gesellschaftsvertrag immer noch ein Angebot, das er nicht ausschlagen kann. Denn dieselben Sanktionen, die ihm drohen, drohen schließlich auch anderen – und schützen damit auch ihn selbst!

Dass Menschen für ihr Tun nichts können, bedeutet also keineswegs das Ende von Recht und Ordnung. Doch muss sich nicht zumindest unser Verhalten gegenüber den Rechtsbrechern ändern? Dürfen wir sie weiter für „schuldig“ und „verantwortlich“ erklären, ihnen moralische Vorwürfe machen und sie guten Gewissens ins Gefängnis stecken?  

Manche Deterministen, die so genannten „Kompatibilisten“, sagen: Ja! So hat etwa der „Vater des Wiener Kreises“, der deutsche Physiker und Philosoph Moritz Schlick, behauptet, dass unsere gegenwärtige Praxis des Tadelns und Strafens durchaus gerechtfertigt sei. Da Menschen sich unsere Vorwürfe zu Herzen nehmen und ihr Verhalten danach ausrichten, sei es weiterhin sinnvoll, sie für ihr Tun moralisch zu verurteilen und strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.

Schlick hat sicher recht, dass dies weiterhin „sinnvoll“ sein mag. Doch die Frage ist nicht, ob es gesellschaftlich sinnvoll ist, sondern ob es moralisch gerechtfertigt ist. Schließlich sind viele Dinge sinnvoll, aber deshalb noch lange nicht gerechtfertigt. Denken wir nur an die „Sippenhaft“: Dass sie die Zahl der Verbrechen zu reduzieren vermag, ist noch lange keine Rechtfertigung dafür, Unschuldige zu bestrafen.  

Ähnlich wie Schlick hat auch der Oxforder Philosoph Peter F. Strawson unsere gegenwärtige Strafpraxis zu verteidigen gesucht. Seiner Ansicht nach gehören unsere moralischen Gefühle wie etwa Empörung, Wut, Zorn, Hass und Verachtung so sehr zu unserer Natur, dass es schlicht und einfach aussichtslos sei, von Menschen zu erwarten, dass sie gegenüber Verbrechern Nachsicht und Milde walten lassen.

Strawson hat damit sicherlich nicht ganz unrecht. Die meisten Menschen reagieren auf ein Verbrechen in der Tat mit Zorn. Von den Opfern zu erwarten, dass sie ihre natürliche Entrüstung bezähmen, scheint etwas viel verlangt. Dennoch ist dieser Einwand nicht zwingend. Auch wenn dann und wann immer noch der Ruf nach dem Henker erschallen mag, haben die meisten Menschen ihre moralistischen Aggressionen doch heute weit besser im Griff als in vergangenen Jahrhunderten. Nicht nur die Prügelstrafe, sondern auch die Todesstrafe erscheint vielen Menschen mittlerweile einer zivilisierten Gesellschaft nicht würdig.  

Ein anschauliches Beispiel dafür, dass sich unsere emotionalen Reaktionen durchaus an empirischen Informationen orientieren können, bietet der berühmt gewordene Fall, über den der Neurologe Jeffrey Burns von der University of Virginia kürzlich berichtete: Ein unbescholtener Lehrer wurde im Alter von 40 Jahren plötzlich von pädophilen Neigungen überwältigt. Als sich herausstellte, dass diese unbezähmbaren Begierden von einem Tumor im orbifrontalen Kortex verursacht wurden, änderte die zunächst entrüstete Bevölkerung ihre Haltung sogleich – statt mit Vorwürfen reagierte sie mit Nachsicht.     

Wenn wir Rechtsbrechern aber nicht länger mit Verachtung begegnen dürfen, was sollen wir dann tun? Nun, das erste, was wir tun sollten, ist unsere Selbstgerechtigkeit aufgeben. Wie im Falle des pädophilen Lehrers müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass wir unter bestimmten Umständen alle mit dem Gesetz in Konflikt geraten können. Statt uns auf die Schulter zu klopfen, sollten wir daher einfach nur dem „Schicksal“ dankbar sein.

Dies kann aber selbstverständlich nicht alles sein. Einem Vorschlag des britischen Philosophen Jonathan Glover folgend, sollten wir noch einen erheblichen Schritt weiter gehen und unsere moralischen Urteile durch ästhetische Urteile ersetzen. Während moralische Urteile Verdienst voraussetzen, kommen ästhetische Urteile bekanntlich ohne sie aus. So bewundern wir etwa die Schönheit, den Charme oder die Intelligenz einer Person, obgleich uns durchaus bewusst ist, dass diese Reize nicht ihr Verdienst sind, sondern ihr einfach in die Wiege gelegt wurden.

Wie moralische Urteile so verfehlen auch ästhetische Urteile ihre Wirkung nicht. Menschen sind in aller Regel bemüht, als höflich, zuvorkommend, hilfsbereit, zuverlässig, verantwortungsbewusst, großzügig und fleißig zu gelten, und lassen sich nur ungern als faul, geizig, gehässig, gewissenlos, boshaft, niederträchtig und schadenfroh bezeichnen. Selbst wenn diese Bezeichnungen nicht moralisch-normativ, sondern lediglich ästhetisch-deskriptiv gemeint sind, lassen sich die allermeisten Menschen von diesen Urteilen doch beeinflussen.

Auch uns selbst gegenüber entfalten ästhetische Urteile ihre Wirkung. Angenommen, ich würde zu Geiz neigen. Auch wenn ich mir keinen Vorwurf daraus machen müsste, könnte ich es doch sehr wohl bedauern, so zu sein. Und da ich nicht im Ruf stehen wollte, ein Pfennigfuchser zu sein, hätte ich auch ein gutes Motiv, mein Verhalten zu ändern.  

Mancher mag den Eindruck haben, dass ästhetische Urteile die moralischen Urteile nicht wirklich ersetzen können. Schließlich scheinen moralische Unwerturteile eine weit stärkere soziale Wirkung zu erzielen als ästhetische Unwerturteile. Doch ich wage zu bezweifeln, dass dies ein Nachteil sein muss. Denn moralische Urteile gehen nicht nur mit sozialem Nutzen, sondern auch mit sozialen Kosten einher. Und der Zorn, die Wut und der Hass, mit denen wir anderen begegnen, hat sowohl in persönlichen als auch in politischen Beziehungen nur zu oft für vermeidbare Streitigkeiten und unnötiges Blutvergießen gesorgt.   

Für den einen oder anderen mag sich all dies wie die seichte Predigt eines unverbesserlichen Gutmenschen anhören. Verlangt unsere Gesellschaft nicht gerade, dass wir endlich härter durchgreifen? Dass wir mit Verbrechern nicht nachsichtiger, sondern unnachsichtiger umgehen? Nun, wer glaubt, dass der Determinismus nicht „tough on crime“, sondern „soft on crime“ sei, irrt sich. Der Determinismus unterscheidet lediglich zwischen dem Umgang mit Verbrechern und dem Umgang mit Verbrechen. So war es beispielsweise durchaus konsequent, als der von Schopenhauer beeinflusste Staatsanwalt und bekennende Determinist Fritz Bauer in den Frankfurter Auschwitz-Prozessen hart durchgegriffen hat. Sein Ziel war schließlich nicht, Vergeltung an den Tätern zu üben, sondern auch dem allerletzten Menschen zu zeigen, das es seinen Preis hat, sich an den Verbrechen eines Unrechtsregimes zu beteiligen. Und so gelang es ihm, ein wirksames Signal gegen die Verübung von Unmenschlichkeiten zu setzen.     

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