In seiner 1872
gehaltenen Rede über „Die Grenzen des Naturerkennens“ erklärte der deutsche
Physiologe Emil Du Bois-Reymond das Problem der Freiheit des menschlichen
Willens für unlösbar. „Ignoramus et Ignorabimus“: „Wir wissen es nicht und wir
werden es niemals wissen“, lautete sein ernüchterndes Urteil.
Wie jeder
wissenschaftstheoretisch geschulte Philosoph zugeben wird, hatte der Mediziner mit
seiner Diagnose durchaus Recht. Wie bei der Frage nach Gott oder der Seele
haben wir es bei der Willensfreiheit mit einem schier unlösbaren Problem zu
tun. Unlösbar, weil sich Existenzaussagen nicht widerlegen und Nichtexistenzaussagen
nicht beweisen lassen.
Dies ist jedoch alles
andere als ein Grund zur Resignation. Denn wenn wir die Willensfreiheit auch weder
zu beweisen noch zu widerlegen vermögen, können wir doch sehr wohl das Problem
lösen, das sich hinter ihr verbirgt. Dass uns die Willensfreiheit so stark
beschäftigt, liegt schließlich vor allem daran, dass wir wissen wollen, ob wir Menschen
für ihre Handlungen moralisch verantwortlich machen können.
Ob Menschen für
das, was sie tun, Lob und Tadel verdienen, ist jedoch viel einfacher zu klären,
als gemeinhin angenommen. Gott, Freud und Libet zum Trotz bedarf es hierzu
weder der Messung von neuronalen Aktionspotenzialen noch der Auswertung von Aufnahmen
eines Magnetresonanztomographen. Die Frage, ob wir unsere Mitmenschen für ihr Tun
und Lassen zur Verantwortung ziehen dürfen, lässt sich nämlich sogar a priori verneinen.
Die hierzu
erforderliche Überlegung, die den Köpfen von Arthur Schopenhauer, Friedrich
Nietzsche und Galen Strawson entstammt, ist dabei ebenso einfach wie bestechend:
Wir tun, was wir tun, weil wir sind, wie wir sind. Dass wir sind, wie wir sind,
ist weder unsere Schuld noch unser Verdienst. Denn so, wie wir uns nicht
ausssuchen konnten, geboren zu werden, so konnten wir uns auch nicht aussuchen,
mit welchem genetischen Erbe und in welche soziale Umwelt wir geboren werden.
Da wir also keinerlei Kontrolle über unsere Geburt, unser Erbe und unsere
Umwelt hatten, können wir auch nicht dafür verantwortlich sein, dass wir sind,
wie wir sind.
Gewiss, Menschen
können ihr Verhalten ändern. Doch ob sie dazu wirklich in der Lage sind, ist
wieder eine Frage von Erbe und Umwelt. Den einen ist es gegeben, den anderen ist
es verwehrt. Insofern allein Erbe und Umwelt entscheiden, ist es also letztlich
eine Sache von Glück und Pech. Wenn aber bloßes Glück und Pech entscheiden, kann
man Menschen auch keinen Vorwurf daraus machen, dass sie sind, wie sie sind,
und dass sie handeln, wie sie handeln.
„Aber wir haben
doch das Gefühl, frei zu sein!“, wird man einwenden. Sicher, dieses Gefühl
haben viele; doch auf dieses Gefühl können wir uns nachweislich nicht verlassen.
Denn wie spätestens die Hypnose gezeigt hat, kann dieses Gefühl sehr wohl täuschen.
Wenn man einem in Trance versetzten Menschen den Auftrag erteilt, eine Stunde nach
dem Erwachen seine Reisetasche zu packen, wird er es tun. Ohne zu wissen, dass
er hiemit nur einen posthypnotischen Auftrag ausführt, glaubt er, frei zu sein,
und erfindet sogar gute Gründe dafür, weshalb er unverzüglich auf Reisen gehen
muss.
All diese
Überlegungen lassen nur eine Schlussfolgerung zu: Wir können nichts dafür, dass
wir sind, wie wir sind, und handeln, wie wir handeln. Wem ein genetisches Erbe
und eine soziale Umwelt beschieden sind, die ihn vor einem Konflikt mit dem
Gesetz bewahren, hat in der Lotterie des Lebens schlicht Glück gehabt. Und wem
ein genetisches Erbe und eine soziale Umwelt mitgegeben sind, die ihn mit dem
Gesetz in Konflikt geraten lassen, hat in der Lotterie des Lebens eben Pech
gehabt. Ersteren dürfen wir beneiden, letzteren bedauern. Doch den einen zu verehren
und den anderen zu verachten, ist ungerechtfertigt.
Manch einem mag
diese Argumentation zu simpel erscheinen. Es geht aber sogar noch weit einfacher:
Nach allem, was wir wissen, sind menschliches Denken, Fühlen und Wollen Funktionen
unseres Gehirns. Wie alle anderen Organe, so unterliegt selbstverständlich auch
unser Gehirn dem Kausalitätsgesetz. Wenn es durchweg deterministisch arbeitet,
dann kann für Freiheit und Verantwortung offensichtlich kein Raum sein. Doch
selbst wenn unser Gehirn indeterministisch funktionierte und es neben kausalen
Prozessen durchaus auch akausale geben sollte, bliebe für Freiheit und Verantworung
kein Raum. Schließlich können wir für Handlungen, die sich buchstäblich dem
Zufall verdanken, genauso wenig wie für Handlungen, die sich der Notwendigkeit
verdanken. Ganz gleich also, ob unser Verhalten auf deterministischem oder
indeterministischem Wege zustande gekommen sein mag – wir hätten so oder so
nicht anders handeln können, als wir tatsächlich gehandelt haben.
Genau an dieser
Stelle tauchen die Fragen auf, die dem Problem der Willensfreiheit überhaupt
erst ihre Brisanz verleihen: Wenn Menschen für ihr Verhalten nicht
verantwortlich gemacht werden können, erscheinen Schuld und Strafe vollkommen
ungerechtfertigt. Viele Menschen fragen sich daher besorgt: Bedeutet dies, dass
wir jetzt nicht einmal mehr Mörder hinter Schloss und Riegel sperren dürfen?
Was soll dann aber aus unserer Gesellschaft werden? Wäre dies nicht eine Absage
an Moral und Recht? Ja, sogar ein Freibrief für Anarchie?
Nein! Wie etwa
Norbert Hoerster, Henrik Walter und Gerhard Vollmer gezeigt haben, schließt der
Abschied von Freiheit und Verantwortung keineswegs den Abschied von Recht und
Ordnung ein. Um dies zu verstehen, müssen wir uns nur auf die eigentliche
Funktion von Moral und Recht besinnen.
Anders als
vielfach angenommen, beruhen moralische
und rechtliche Normen weder auf göttlichen Geboten noch auf natürlichen
Sittengesetzen, sondern einzig und allein auf menschlichen Interessen.
Moralische und rechtliche Normen sind – ähnlich wie die Bestimmungen eines
Vertrags zum gegenseitigen Vorteil – bloße Konventionen. Sie haben die ganz
weltliche und zugleich äußerst wichtige Aufgabe, menschliche
Interessenkonflikte zu lösen und zu einem friedlichen Zusammenleben beizutragen.
Um von einer Norm zu sagen, dass sie gerechtfertigt ist, muss gezeigt
werden können, dass ihre Befolgung in unser aller Interesse ist. Von vielen
Normen lässt sich dies ohne weiteres zeigen. Nehmen wir beispielsweise die Norm
“Du sollst nicht töten!”: Jeder mag gelegentlich das Interesse haben, einen anderen
zu töten. Weitaus größer als das Interesse, gelegentlich zu töten, ist jedoch
unser Interesse, nicht selbst getötet zu werden. Da der Nachteil, nicht töten
zu dürfen, von dem Vorteil, nicht getötet zu werden, mehr als aufgewogen wird,
hat jeder von uns einen guten Grund, sich für ein allgemeines Tötungsverbot
auszusprechen.
Dass ein generelles Tötungsverbot in unser aller Interesse ist, ist freilich
noch keine Gewähr dafür, dass es auch tatsächlich von jedem befolgt wird. Schließlich
steht immer zu befürchten, dass es einige Menschen geben wird, die sich zwar an
dem Nutzen, nicht aber an den Kosten des Tötungsverbots beteiligen wollen. Um sicherzustellen,
dass es wirklich von allen befolgt wird, ist es daher in jedermanns Interesse,
das Tötungsverbot mit einer rechtlichen Sanktion zu versehen. Denn erst eine Sanktion
wie der Freiheitsentzug kann für den Regelfall gewährleisten, dass das Tötungsverbot
tatsächlich von niemandem verletzt wird.
Was hier vom Mord gezeigt worden ist, lässt sich auch von Diebstahl,
Körperverletzung, Vergewaltigung und anderen Verbrechen zeigen. Ganz unabhängig
davon, ob wir nun frei und verantwortlich sind, es ist offensichtlich in unser
aller Interesse, dass wir Verhaltensweisen, die uns schaden, sanktionieren. Selbst
für den, der in der Lotterie des Lebens Pech gehabt hatte und Gefahr läuft, mit
dem Gesetz in Konflikt zu geraten, ist unser Gesellschaftsvertrag immer noch ein
Angebot, das er nicht ausschlagen kann. Denn dieselben Sanktionen, die ihm
drohen, drohen schließlich auch anderen – und schützen damit auch ihn selbst!
Dass Menschen für ihr Tun nichts können, bedeutet also keineswegs das
Ende von Recht und Ordnung. Doch muss sich nicht zumindest unser Verhalten
gegenüber den Rechtsbrechern ändern? Dürfen wir sie weiter für „schuldig“ und
„verantwortlich“ erklären, ihnen moralische Vorwürfe machen und sie guten
Gewissens ins Gefängnis stecken?
Manche Deterministen, die so genannten „Kompatibilisten“, sagen: Ja! So
hat etwa der „Vater des Wiener Kreises“, der deutsche Physiker und Philosoph Moritz
Schlick, behauptet, dass unsere gegenwärtige Praxis des Tadelns und Strafens durchaus
gerechtfertigt sei. Da Menschen sich unsere Vorwürfe zu Herzen nehmen und ihr
Verhalten danach ausrichten, sei es weiterhin sinnvoll, sie für ihr Tun
moralisch zu verurteilen und strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.
Schlick hat sicher recht, dass dies weiterhin „sinnvoll“ sein mag. Doch
die Frage ist nicht, ob es gesellschaftlich sinnvoll ist, sondern ob es moralisch
gerechtfertigt ist. Schließlich sind viele Dinge sinnvoll, aber deshalb noch
lange nicht gerechtfertigt. Denken wir nur an die „Sippenhaft“: Dass sie die
Zahl der Verbrechen zu reduzieren vermag, ist noch lange keine Rechtfertigung
dafür, Unschuldige zu bestrafen.
Ähnlich wie Schlick hat auch der Oxforder Philosoph Peter F. Strawson
unsere gegenwärtige Strafpraxis zu verteidigen gesucht. Seiner Ansicht nach
gehören unsere moralischen Gefühle wie etwa Empörung, Wut, Zorn, Hass und
Verachtung so sehr zu unserer Natur, dass es schlicht und einfach aussichtslos sei,
von Menschen zu erwarten, dass sie gegenüber Verbrechern Nachsicht und Milde
walten lassen.
Strawson hat damit sicherlich nicht ganz unrecht. Die meisten Menschen
reagieren auf ein Verbrechen in der Tat mit Zorn. Von den Opfern zu erwarten, dass
sie ihre natürliche Entrüstung bezähmen, scheint etwas viel verlangt. Dennoch
ist dieser Einwand nicht zwingend. Auch wenn dann und wann immer noch der Ruf
nach dem Henker erschallen mag, haben die meisten Menschen ihre moralistischen
Aggressionen doch heute weit besser im Griff als in vergangenen Jahrhunderten.
Nicht nur die Prügelstrafe, sondern auch die Todesstrafe erscheint vielen
Menschen mittlerweile einer zivilisierten Gesellschaft nicht würdig.
Ein anschauliches Beispiel dafür, dass sich unsere emotionalen Reaktionen
durchaus an empirischen Informationen orientieren können, bietet der berühmt
gewordene Fall, über den der Neurologe Jeffrey Burns von der University of
Virginia kürzlich berichtete: Ein unbescholtener Lehrer wurde im Alter von 40
Jahren plötzlich von pädophilen Neigungen überwältigt. Als sich herausstellte,
dass diese unbezähmbaren Begierden von einem Tumor im orbifrontalen Kortex verursacht
wurden, änderte die zunächst entrüstete Bevölkerung ihre Haltung sogleich –
statt mit Vorwürfen reagierte sie mit Nachsicht.
Wenn wir Rechtsbrechern aber nicht länger mit Verachtung begegnen dürfen,
was sollen wir dann tun? Nun, das erste, was wir tun sollten, ist unsere Selbstgerechtigkeit
aufgeben. Wie im Falle des pädophilen Lehrers müssen wir uns in Erinnerung
rufen, dass wir unter bestimmten Umständen alle mit dem Gesetz in Konflikt
geraten können. Statt uns auf die Schulter zu klopfen, sollten wir daher einfach nur dem „Schicksal“ dankbar sein.
Dies kann aber selbstverständlich nicht alles sein. Einem Vorschlag des
britischen Philosophen Jonathan Glover folgend, sollten wir noch einen
erheblichen Schritt weiter gehen und unsere moralischen Urteile durch
ästhetische Urteile ersetzen. Während moralische Urteile Verdienst
voraussetzen, kommen ästhetische Urteile bekanntlich ohne sie aus. So bewundern
wir etwa die Schönheit, den Charme oder die Intelligenz einer Person, obgleich
uns durchaus bewusst ist, dass diese Reize nicht ihr Verdienst sind, sondern
ihr einfach in die Wiege gelegt wurden.
Wie moralische Urteile so verfehlen auch ästhetische Urteile ihre Wirkung
nicht. Menschen sind in aller Regel bemüht, als höflich, zuvorkommend, hilfsbereit,
zuverlässig, verantwortungsbewusst, großzügig und fleißig zu gelten, und lassen
sich nur ungern als faul, geizig, gehässig, gewissenlos, boshaft, niederträchtig
und schadenfroh bezeichnen. Selbst wenn diese Bezeichnungen nicht
moralisch-normativ, sondern lediglich ästhetisch-deskriptiv gemeint sind, lassen
sich die allermeisten Menschen von diesen Urteilen doch beeinflussen.
Auch uns selbst gegenüber entfalten ästhetische Urteile ihre Wirkung. Angenommen,
ich würde zu Geiz neigen. Auch wenn ich mir keinen Vorwurf daraus machen
müsste, könnte ich es doch sehr wohl bedauern, so zu sein. Und da ich nicht im
Ruf stehen wollte, ein Pfennigfuchser zu sein, hätte ich auch ein gutes Motiv, mein
Verhalten zu ändern.
Mancher mag den
Eindruck haben, dass ästhetische Urteile die moralischen Urteile nicht wirklich
ersetzen können. Schließlich scheinen moralische Unwerturteile eine weit stärkere
soziale Wirkung zu erzielen als ästhetische Unwerturteile. Doch ich wage zu bezweifeln,
dass dies ein Nachteil sein muss. Denn moralische Urteile gehen nicht nur mit sozialem
Nutzen, sondern auch mit sozialen Kosten einher. Und der Zorn, die Wut und der
Hass, mit denen wir anderen begegnen, hat sowohl in persönlichen als auch in
politischen Beziehungen nur zu oft für vermeidbare Streitigkeiten und unnötiges
Blutvergießen gesorgt.
Für den einen
oder anderen mag sich all dies wie die seichte Predigt eines unverbesserlichen Gutmenschen
anhören. Verlangt unsere Gesellschaft nicht gerade, dass wir endlich härter
durchgreifen? Dass wir mit Verbrechern nicht nachsichtiger, sondern unnachsichtiger
umgehen? Nun, wer glaubt, dass der Determinismus nicht „tough on crime“,
sondern „soft on crime“ sei, irrt sich. Der Determinismus unterscheidet lediglich
zwischen dem Umgang mit Verbrechern und dem Umgang mit Verbrechen. So war es
beispielsweise durchaus konsequent, als der von Schopenhauer beeinflusste Staatsanwalt
und bekennende Determinist Fritz Bauer in den Frankfurter Auschwitz-Prozessen
hart durchgegriffen hat. Sein Ziel war schließlich nicht, Vergeltung an den Tätern
zu üben, sondern auch dem allerletzten Menschen zu zeigen, das es seinen Preis
hat, sich an den Verbrechen eines Unrechtsregimes zu beteiligen. Und so gelang
es ihm, ein wirksames Signal gegen die Verübung von Unmenschlichkeiten zu setzen.
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