Samstag, 12. November 2016

Die Zukunft einer Illusion



Im Herbst wird uns eine neue Welle der Religionskritik überschwemmen. Mit Richard Dawkins’ Buch „Der Gotteswahn“, Sam Harris’ „Das Ende des Glaubens“ und Christopher Hitchens’ „Der Herr ist kein Hirte“ stehen uns gleich drei rigorose Angriffe auf den Glauben ins Haus. Argumentativ bei weitem nicht so gut wie Norbert Hoersters „Die Frage nach Gott“, werden diese Bücher doch zweifellos ein weit breiteres Publikum erreichen. Vor allem aber werden sie die Debatte zur Religionskritik weg von rein theoretischen und hin zu eher praktischen Fragen lenken: Haben die Religionen dieser Welt alles in allem mehr Gutes oder Schlechtes bewirkt? Sind die Konflikte in Nordirland, Israel, Indien und anderswo nun religiös oder politisch motiviert? Ist die Religion wirklich die einzig verlässliche Grundlage unserer Moral? Haben religiöse Gefühle einen Anspruch darauf, nicht verletzt zu werden? Und wo genau liegen eigentlich die Grenzen der freien Religionsausübung?  



Einen der Einwände, den sich Dawkins & Co. immer wieder anhören müssen, ist der, dass die Religionskritik eine vergebliche Liebesmüh sei. Die Menschen hätten nun einmal ein angeborenes „metaphysisches Bedürfnis“, das nur durch die Religion zu befriedigen sei. Die neuen Aufklärer gäben sich daher auch einer bloßen Illusion hin, wenn sie allen Ernstes meinten, dass sich die Zahl der religiösen Menschen in nennenswertem Umfange reduzieren ließe. Doch ist die Kritik an der Religion tatsächlich eine reine Donquichotterie? Ist gegen den Glauben anzukämpfen genauso töricht wie gegen Windmühlen anzurennen? Ich glaube nicht. Ich denke, das Beispiel der ehemaligen DDR zeigt sehr schön, dass es kein angeborenes metaphysisches Bedürfnis gibt und eine religionskritische Erziehung durchaus fruchten kann. Nahezu allein durch die Verbannung des Religionsunterrichts aus den Schulen ist es dem DDR-Regime gelungen, die Zahl der Kirchenmitglieder von über 90 Prozent im Jahr 1949 auf unter 30 Prozent im Jahr 1989 zu senken. Trotz der deutschen Wiedervereinigung, der Rückkehr des Religionsunterrichts an die Schulen und enormer Anstrengungen einer Re-Christianisierung weigern sich die Brüder und Schwestern im Osten nach wie vor standhaft, in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche zurückzukehren.

Nun ist die Zahl, die nominell der evangelischen oder katholischen Kirche angehören, natürlich nicht sonderlich aussagekräftig. Schließlich kann man auch religiös sein, ohne offiziell einer Kirche anzugehören. Doch wie uns spätestens die 1998 vom Mannheimer Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) durchgeführte Internationale Sozialwissenschaftliche Umfrage zum Thema Religion gezeigt haben sollte, sind die konfessionslosen Ossis keineswegs verlorene Schafe, die ihr Heil außerhalb der Kirche suchen, sondern tatsächlich beinharte Atheisten. In der besagten Umfrage ist 40.000 Menschen aus 40 Nationen die „Gretchenfrage“ gestellt worden – darunter Amerikanern, Briten, Franzosen, Italienern, Russen, Australiern, Holländern und Deutschen. Die Ergebnisse zeigten deutlich, dass die Ossis tatsächlich das gottloseste Volk auf Erden sind.

Während nur 8,2 Prozent der Amerikaner, 12,4 Prozent der Italiener, 31,7 Prozent der Briten, 37,8 Prozent der Westdeutschen und immerhin 48,2 Prozent der Franzosen nicht an Gott glaubten, bezeichneten sich ganze 74,2 Prozent der Ostdeutschen als Atheisten. Umgekehrt sagten 85,6 Prozent der Amerikaner, 83,3 Prozent der Italiener, 62,5 Prozent der Briten, 51,7 Prozent der Westdeutschen, 40,4 Prozent der Franzosen, aber nur 18.5 Prozent der Ostddeutschen, dass sie „an Gott glauben und immer an ihn geglaubt haben“.

Auf die Frage, ob es „ein Leben nach dem Tode“ gibt, antworteten 80,5 Prozent der Amerikaner, 72,6 Prozent der Italiener, 59,4 Prozent der Briten, 55,1 Prozent der Westdeutschen, 50,7 Prozent der Franzosen und lediglich 14,9 Prozent der Ostdeutschen mit „ja“. Trotz ihres Zweifels an Gott, an einer unsterblichen Seele und einem Leben nach dem Tode betrachteten die Ossis ihr Leben jedoch keineswegs als sinnlos. So widersprachen der Behauptung, dass das Leben keinen Sinn habe, beispielsweise nur 76,1 Prozent der Westdeutschen, aber 86,3 Prozent der Ostdeutschen.  

Wer meint, dass uns die Religiosität gewissermaßen in die Wiege gelegt worden ist, wird vielleicht mutmaßen, dass die Ostdeutschen dafür abergläubischer seien als die Westdeutschen. Doch weit gefehlt! Die Ossis glauben weniger an Horoskope, Glücksbringer, Wahrsager und Wunderheiler als die Wessis. Während in den alten Bundesländern beispielsweise 9 Prozent auf die Astrologie schwören, sind es in den neuen Bundesländern nur 4 Prozent. Zudem sind die Ostdeutschen auch weit weniger wissenschaftsfeindlich als die Westdeutschen. Während im Westen 21,5 Prozent der Ansicht sind, dass wir „zu viel Vertrauen in die Wissenschaft und zu wenig in den religiösen Glauben setzen“, sind es im Osten nur 11.9 Prozent, die dieser Aussage beipflichten.

Im Westen sagt man gern, dass der Osten mit dem Kommunismus eine „Ersatzreligion“ gehabt habe, in der Marx zu Gott, das Kommunistische Manifest zur Bibel und der Kreml zum Vatikan erhoben wurden. Doch davon kann überhaupt keine Rede sein. Abgesehen von einer durchaus überschaubaren Zahl von Apparatschniks – von den knapp 2,3 Millionen SED-Mitgliedern dürften gut die Hälfte bloße Opportunisten gewesen sein, die sich unmittelbar nach dem Fall der Mauer auch als „Wendehälse“ entpuppten – waren die Ossis keine „gläubigen Kommunisten“. Sie wussten sehr wohl, dass sie in einer stalinistischen Diktatur leben, in der ihre Menschenrechte beschnitten und ihr Selbstbestimmungsrecht missachtet werden. In 26 Jahren DDR bin ich persönlich niemandem begegnet, der die „Aktuelle Kamera“ der „Tagesschau“ vorgezogen hätte. Allein die bedauernswerten Bewohner der Oberlausitz, dem „Tal der Ahnungslosen“, mussten mit dem „Schwarzen Kanal“ vorlieb nehmen und auf „Kennzeichen D“ verzichten.  

Angesichts des weit verbreiteten und anhaltenden Atheismus in der DDR lässt sich nur schwer an ein „metaphysisches Bedürfnis“ der Menschen glauben, das schier unausrottbar ist. Da niemand das Experiment des „real existierenden Sozialismus“ wiederholen wollte, stellt sich die Frage, ob der Religionskritik im Westen jemals ähnliche Erfolge beschieden sein könnten wie im Osten. Ich selbst bin zuversichtlich. Doch ich glaube, dass die Religionskritik nur einer von vier Faktoren ist, der die zunehmende Abkehr vom Glauben befördern wird. Die Bildung, die Kirche und die Theologie werden meines Erachtens das ihre dazu beitragen.

Der enorme Einfluss der Bildung, der möglicherweise hauptverantwortlich für den Schwund der Religiosität in Westeuropa ist, lässt sich vielleicht an keinem anderen Beispiel so gut demonstrieren wie an dem der USA. Während in der herkömmlichen Bevölkerung etwa 92 Prozent an Gott glauben und nur 8 Prozent Atheisten sind, ist es in der intellektuellen Elite, der Amerikanischen Akademie der Wissenschaften, genau umgekehrt: Unter den führenden US-Wissenschaftlern glauben nur 8 Prozent an Gott und 92 Prozent sind Atheisten.    

In seinem 1927 erschienenen Buch „Die Zukunft einer Illusion“ schrieb Sigmund Freud, dass die Religion drei Funktionen habe – sie soll die Welt erklären, moralische Orientierung bieten und seelischen Trost spenden. Nachdem die Religion die Funktion der Welterklärung längst an die Wissenschaft abgetreten hat, bleiben nur noch die Funktion der Moral und der Hoffnung. Doch um beide ist es mittlerweile eher schlecht bestellt. Moralisch fühlen sich zunehmend weniger in der Religion aufgehoben. Während die katholische Kirche mit ihren rigorosen Positionen mehr und mehr Menschen vor den Kopf stößt, scheint die evangelische Kirche mit ihren liberalen Positionen mehr und mehr Menschen zu entfremden. Wenn die Kirchen zu so grundlegenden Fragen wie der Empfängnisverhütung, dem Schwangerschaftsabbruch, der Sterbehilfe oder der Homosexualität keine einheitlichen Antworten mehr bieten, werden die Gläubigen, die sich moralische Orientierung von ihren Geistlichen versprochen hatten, zwangsläufig zu dem Schluss gelangen, dass sie sich genauso gut an die säkulare Ethik wie an die religiöse Ethik wenden können.

Ähnlich armselig ist es um den seelischen Trost bestellt. Nachdem evangelische Theologen wie Rudolf Bultmann und Dorothee Sölle es vorgemacht haben, folgen nun auch katholische Theologen wie Hans Küng und Eugen Drewermann der bewährten Defensivtaktik, die Religion auszuhöhlen und den Gottesbegriff bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen. So beschreibt Küng Gott etwa als „absolutes-relatives, diesseitiges-jenseitiges, transzendentes-immanentes“ Wesen, das „durch keinen Begriff zu begreifen, durch keine Aussage auszusagen und durch keine Definition zu definieren“ ist. Angesichts solch leerer Worthülsen werden sich schon bald mehr und mehr Christen besorgt fragen: „Was zum Teufel habe ich von einem Gott, der existent-inexistent ist? Ist ein solcher Gott nicht genauso gut wie gar kein Gott?“ Vor genau diesem Hintergrund mag dem „neuen Kreuzzug der Atheisten“, wie Der Spiegel ihn unlängst süffisant nannte, langfristig durchaus ein Sieg beschieden sein.

2 Kommentare:

  1. Danke, ein sehr guter Beitrag. Nur Manche Dinge erscheinen mir mittlerweile in einem anderen Licht.

    Zum einen: Einige Leute behaupten, der Erfolg von Pegida und AfD im Osten Deutschlands (genauer: die allgemein größere Ablehnung von - insbesondere muslimischen - Flüchtlingen) hänge mit dem dort vorherrschenden Atheismus zusammen. Stimmt das? Ich bin nicht überzeugt, denn auch in den osteuropäischen Ländern wie Polen ist der Vorbehalt gegen Flüchtlinge sehr groß, obwohl in Polen sehr viele Menschen religiös sind. Hat vielleicht der Kommunismus irgendeinen Wertewandel erzeugt, der unabhängig ist von Religiosität. Auch das scheint mir wenig plausibel. Vielleicht ist es eher die schwächere Wirtschaft in ehemaligen Ostblockländern die viele Leute fürchten lässt Einwanderer würden Sozialleistungen und Arbeitsplätze kosten. Das wiederum erklärt aber nicht warum die Ablehnung sich hauptsächlich gegen Muslime richtet.

    Zum anderen: Laut einer Pew-Stduie (http://www.pewforum.org/2015/04/02/religious-projections-2010-2050/) wird die die Welt von 2010 bis 2050 insgesamt deutlich muslimischer. In Europa wird der Anteil der Muslime bis dahin auf 10% geschätzt. Das ist wohl eher eine konservative Schätzung, weil hier vermutlich noch nicht der erhebliche (anhaltende?) Zustrom von Muslimen durch die Flüchtlingskrise eingerechnet ist. Zudem wird die Zahl der Muslime in Ländern wie Deutschland vermutlich ganz anders anwachsen als in anderen europäischen Ländern, die kaum Flüchtlinge aufnehmen. Pew geht außerdem davon aus, dass die Anzahl der unreligiösen Menschen zwar (auf Kosten moderater Christen) minimal steigen, aber ihr Anteil an der Weltbevölkerung dennoch zurückgehen wird. Da bleibt anscheinend wenig Grund zum Optimismus...

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  2. Ich weiß es leider auch nicht. Mein Eindruck ist, dass die Erfolge von Pegida und AfD im Osten auf Enttäuschung und Angst beruhen. Enttäuschung, weil sie den Eindruck haben, dass unter Merkel zu leben, nicht viel anders ist, als unter Honecker zu leben. Im einen wie im anderen Fall wird eine Politik am Volk vorbei betrieben, und im einen wie im anderen Fall, kann man nichts dagegen tun. Angst, weil sie tatsächlich befürchten, weiter zu verarmen, wenn man die sozialen Mittel, die der Staat zur verfügung stellt, jetzt noch mit ein, zwei oder gar drei Millionen von Ausländern teilen muss. Zudem fühlen sich viele wohl genauso verscheißert wie in der DDR: Damals wurden sie vom "Neuen Deutschland" belogen, heute werden sie vom "Spiegel" belogen. Wie Werner Patzelt ganz richtig schreibt, ist ihnen die "Vasallenschaft" zu Washington und die "Dämonisierung" von Putin suspekt. Es ist wohl wie ein déjà-vu-Erlebnis: Früher war man ein Vasall Moskaus und der Dämon saß in Washington.

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