Sonntag, 9. Oktober 2016

"Creation": Der liebe Gott und das Leid der Tiere






Charles Darwins „Evolution durch natürliche Selektion“ gilt weithin als die größte Idee in der Geschichte der Wissenschaft. Seit ihrem ersten Bekanntwerden im Jahre 1859 gilt sie aber zugleich auch als die vielleicht gefährlichste Idee aller Zeiten. Obgleich es mit Spinoza, Hobbes, La Mettrie, Hume, Voltaire oder d’Holbach durchaus schon eine Vielzahl von Skeptikern gab, glaubte die Mehrheit der Menschen zu dieser Zeit doch noch an die Bibel, wonach Gott diese Welt mitsamt aller ihrer Kreaturen in sieben Tagen geschaffen hat. 



Darwin, der in seiner Jugend an der University of Cambridge zunächst Theologie studiert hatte, war sich der Sprengkraft seiner Idee auch sehr wohl bewusst. Wenn seine Idee richtig war, sagte er sich, hätte er Gott gewissermaßen arbeitslos gemacht. Schließlich bedurfte es jetzt keines Schöpfers mehr, um die Vielfalt der Arten und die Zweckmäßigkeit der Natur zu erklären.

Einige Freunde Darwins gingen freilich noch entschieden weiter. Sie behaupteten allen Ernstes, dass er Gott getötet habe. Getauft als Anglikaner und verheiratet mit einer tiefgläubigen Unitarierin, bereitete ihm die Idee der Evolution über Jahre schwere Gewissensnöte.

Genau an dieser Stelle setzt Jon Amiels wunderbarer Film „Creation“ ein. Es zeigt, wenn auch in einer frei erfundenen Geschichte, wie Charles Darwin im Jahre 1858 von Skrupeln geplagt die Veröffentlichung seines Hauptwerkes immer wieder hinauszögert.

Hinzu kommt, dass Darwin nach dem Tod seiner ältesten Tochter „Annie“, die im zarten Alter von gerade einmal zehn Jahren von einem heimtückischen Fieber dahingerafft wird, in regelmäßigen Abständen unter Anfällen einer tiefen Schwermut leidet. 

In Rückblicken und Tagträumen spricht er mit „Annie“, deren aufgeweckten Geist und unerschöpfliche Neugierde ihm stets ein Quell der Freude waren. Aber ihr Ableben stellt Darwin vor das Theodizee-Problem: Wie kann ein barmherziger Gott all das Leid in dieser Welt zulassen?

Durch die Evolutiontheorie hat sich das Problem der Theodizee noch verschärft. Denn nun war die Welt nicht mehr nur einige tausend Jahre, sondern einige Milliarden Jahre alt. Und das hieß, dass es das Leid schon weit länger als den Menschen gab. Wie kann also ein vermeintlich allmächtiger, allwissender und allgütiger Gott das namenlose Leid der Tiere dulden?

In seiner erst posthum erschienenen Autobiographie schrieb Darwin denn auch: „Dass es viel Leid auf Erden gibt, bestreitet keiner. Man hat das – soweit es den Menschen betrifft – damit zu erklären versucht, dass es seiner sittlichen Besserung diene. Aber die Zahl der Menschen ist wie nichts im Vergleich mit der aller anderen fühlenden Wesen. Diese leiden oft erheblich ohne die Möglichkeit einer sittlichen Besserung. Ein Wesen, das so mächtig und kenntnisreich ist wie ein Gott, der das Universum erschaffen konnte, erscheint unserem begrenzten Geist allmächtig und allwissend, und es beleidigt unser Verständnis, dass sein Wohlwollen nicht unbegrenzt sein soll, denn was für einen Vorteil könnte das Leiden von Millionen niederer Tiere durch fast endlose Zeiten hindurch haben?“

Um sich ein Bild vom Leiden der Tiere zu machen, lohnt es, einen Absatz aus dem Werk eines zeitgenössischen Evolutionsbiologen zu zitieren. In seinem Buch „Und es entsprang ein Fluss in Eden“ schreibt Richard Dawkins: „Das Leiden hat in der Natur jedes Jahr ein Ausmaß, das alle erträglichen Vorstellungen übersteigt. In der Minute, in der ich diesen Satz niederschreibe, werden Tausende von Tieren bei lebendigem Leibe gefressen; andere laufen bebend vor Angst um ihr Leben; wieder andere werden langsam und von innen heraus durch gefräßige Parasiten zugrunde gerichtet. Tausende von Lebewesen aller Arten sterben an Hunger, Durst und Krankheiten.“

Charles Darwin, der im Film übrigens wunderbar von Paul Bettany verkörpert wird, war freilich nicht der erste, dem das Leid der Tiere als ein Einwand gegenüber der Güte Gottes erschien. So schloss sich beispielsweise schon der französische Philosoph Nicolas Malebranche bewusst der berühmt-berüchtigten Auffassung von René Descates an, wonach Tiere seelenlose Automaten seien, die keinerlei Gefühle kennen würden. Denn wie, so fragte er, sollte man sonst erklären, dass ein gerechter Gott unschuldige Tiere leiden lässt?

Inzwischen dürfte es wohl kaum noch jemanden geben, der bestreiten würde, dass zumindest höhere Lebewesen, wie insbesondere die Säugetiere, Schmerzen empfinden können. In einem neuen Versuch, das Leiden der Tiere mit der Güte Gottes in Einklang zu bringen, hat der Theologe Eugen Drewermann jedoch kürzlich einen ganz ähnlichen Weg beschritten. Er behauptet, dass Tiere, die in freier Wildbahn gerissen werden, nicht leiden. Seiner Ansicht nach versterben die Beutetiere bereits, bevor die Raubtiere sie zu zerfleischen beginnen. Sie sterben an einem, wie er es nennt, „Vagus-Tod“, einem plötzlichen Herzversagen, das im Zustand absoluter Ausweglosigkeit einzutreten pflege: „So kann eine Antilope sterben, noch ehe die Pranken der sie verfolgenden Löwin sich in ihr Fleisch schlagen.“

Ich will nicht in Abrede stellen, dass es solche Todesfälle geben mag. Doch wie jeder, der schon einmal eine Dokumentation über das Leben in der Serengeti gesehen hat, weiß, ist das keineswegs die Regel. Anders als Löwen sind Hyänen beispielsweise außerstande, ihre Opfer mit einem einzigen Biss zu töten. Zumeist dauert es zwanzig qualvolle Minuten, bis ein von einem Rudel von Hyänen zur Strecke gebrachtes Zebra endlich stirbt.

In seinem erwähnten Buch „Und es entsprang ein Fluss in Eden“ hat sich übrigens auch schon Richard Dawkins mit der Idee eines „Vagus-Todes“ beschäftigt: „Wäre die Natur freundlich“, schreibt er, „würde sie wenigstens ein kleines Zugeständnis machen und die Tiere betäuben, bevor sie bei lebendigem Leibe gefressen werden. Man könnte sich leicht ein Gen vorstellen, dass beispielsweise die Gazelle sediert, wenn sie im Begriff ist, den tödlichen Biss zu erleiden. Würde die natürliche Selektion ein solches Gen fördern? Nein, es sei denn, durch die Beruhigung der Gazelle steigt die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Gen an zukünftige Generationen weitergegeben wird. Wie das geschehen soll, ist schwer zu erkennen, und deshalb müssen wir annehmen, dass Gazellen schreckliche Schmerzen und Ängste erdulden, wenn sie zu Tode gejagt werden – und dieses Schicksal steht den meisten von ihnen bevor.“    

Von all den christlichen Apologeten, die sich mit dem Theodizee-Problem auseinandergesetzt haben, hat sich wohl niemand so sehr mit der Frage nach dem Leid der Tiere beschäftigt wie der irische Literaturwissenschaftler und Schriftsteller C. S. Lewis. In seinem 1940 erschienenen Buch „Das Problem des Schmerzes“ hat er den Tieren ein ganzes Kapitel gewidmet. Gleich im ersten Absatz stellte er die theologische Herausforderung durch das Leiden der Tiere in aller Fairness dar:

„Die ganze Zeit aber dringt eine Klage von unverschuldetem Weh durch die Wolken, weil die christliche Deutung des menschlichen Schmerzes nicht auf den Schmerz der Tiere ausgedehnt werden kann. Soweit wir wissen, sind Tiere weder der Sünde noch der Tugend fähig; und also leiden sie weder zu Recht, noch können sie durch Leid gebessert werden.“

Nahezu ein Jahrhundert nach Charles Darwins „Die Entstehung der Arten“ lehnt Lewis auch den Gedanken ab, dass das Leiden der Tiere eine Folge der Erbsünde und Adams Fall sei:

„Dies ist nicht mehr möglich; denn wir haben guten Grund anzunehmen, dass die Tiere lange vor den Menschen existiert haben. Fleischfresserei mit allem, was daraus folgt, ist älter als die Menschheit.“

Obgleich sich Lewis davor scheut, die Erbsünde ins Spiel zu bringen, nimmt er seine Zuflucht dann aber letztlich doch bei „Satan“ und der „Macht der Finsternis“:

„Gibt es, wie ich glaube, eine solche Macht, dann ist es durchaus möglich, dass sie die Schöpfungsordnung der Tiere schon vor dem Auftreten des Menschen verdorben hat.“  

Gewiss ist dies möglich! Doch philosophisch ist es eine reine ad hoc Annahme. Hier wird einfach an die „Macht der Finsternis“ appelliert, ohne auch nur den geringsten Versuch zu unternehmen, deren Existenz zuallererst zu begründen. Noch wird die Frage angesprochen, weshalb der Schöpfer einem übelwollenden Teufel eigentlich Macht über seine Kreaturen einräumen sollte.

Lewis scheint sich der Schwäche seines Arguments denn auch bewusst zu sein, wenn er schließlich sogar über die „Unsterblichkeit der Tiere“ zu spekulieren beginnt. Doch dass Gott sich genötigt fühlen sollte, die Tiere im Himmel für ihr Leiden auf Erden zu entschädigen, kommt freilich einer Kapitulation vor dem Theodizee-Problem gleich.

Ein metaphysikfreier Versuch einer Theodizee ist unlängst von dem britischen Philosophen Michael Ruse unternommen worden. Obgleich selbst Atheist, hat sich Ruse in den vergangenen Jahren mehr und mehr zu einem Gegenspieler von Dawkins entwickelt. Dessen Buch „Der Gotteswahn“ kommentierte er mit der Bemerkung, dass es eine „Schande für den Atheismus“ sei. In seinem Buch „Can A Darwinian Be A Christian?“ versucht Ruse denn auch Dawkins mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Hierzu greift er Dawkins’ Bemerkung auf, dass, wo auch immer wir im Universum auf Leben stoßen sollten, es sich dem Prozess der Evolution durch natürliche Selektion verdanken werde.

Geradezu triumphierend behauptet Ruse, dass Dawkins mit dieser Bemerkung den Christen unfreiwillig in die Hände gespielt habe: Denn wenn es keine Alternative zur Evolution gebe, habe Gott selbstverständlich auch keine andere Wahl gehabt, als seine Schöpfung den Gesetzen von Mutation und Selektion zu unterwerfen. Dass die Tiere einer „Natur mit Zähnen und Klauen blutigrot“ ausgeliefert sind, sei daher einfach der unvermeidliche Preis der Schöpfung.

Doch dies ist natürlich ein billiger Trick. Dawkins hat nie behauptet, dass es überhaupt keine Alternative zur Evolution gebe. Er hat lediglich gesagt, dass, wo auch immer Leben von selbst entsteht, es sich sicher unter denselben Darwinschen Gesetzmäßigkeiten entwickelt haben wird wie das Leben auf unserer Erde. Davon, dass selbst ein allwissender Gott auf die Evolution durch natürliche Selektion angewiesen sein würde, war nie die Rede. Zu behaupten, dass Gott außerstande gewesen sei, eine Natur zu schaffen, in der es kein Gesetz des Fressens und Gefressenwerdens gebe, ist erneut eine reine ad hoc Behauptung.

In einem Interview mit der BBC ist der bekannte Tierfilmer Sir David Attenborough einmal gefragt worden, wie er es mit der Religion halte. Denn in keiner seiner Dokumentationen habe er je das Wort „Schöpfer“ gebraucht. Attenborough antwortete, dass er keineswegs blind für die Schönheit der Natur sei. Doch neben den Orchideen, den Schmetterlingen und den Paradiesvögeln sehe er auch einen dreijährigen Jungen in Westafrika, dessen Augapfel von einem Wurm durchbohrt werde und ihn erblinden lasse, bevor er das fünfte Lebensjahr erreicht. „Bereits die Existenz solch parasitärer Würmer scheint mir gegen die Idee eines barmherzigen Schöpfers zu sprechen.“ 

Attenboroughs Antwort erinnert stark an eine Aussage Darwins. In einem Brief an seinen Freund Asa Gray schrieb er einmal: „Ich kann mich nicht zu der Ansicht überreden, dass ein wohlmeinender und allmächtiger Gott die Ichneumonidae ausgerechnet mit der Absicht geschaffen haben soll, dass sie sich im lebenden Körper von Raupen ernähren.“ Die Ichneumonidae sind eine Klasse parasitärer Wespen. Mit einem gezielten Stich lähmen sie die motorischen, nicht aber die sensorischen Nerven einer Raupe, um dann ihre Eier darin abzulegen. Wenn die Larven schlüpfen, fressen sie sich ihren Weg durch den lebenden Körper ihres Wirts.

Wir wissen nicht, ob Raupen Schmerz empfinden können. Doch ich glaube der Grund, weshalb Darwin das Beispiel der Ichneumoniden gewählt hatte, bestand auch nicht darin, zu zeigen, wie sehr Tiere leiden, sondern darin, welche Rückschlüsse wir auf den Charakter des Schöpfers ziehen müssten, wenn wir in der Natur ein Werk Gottes erblicken wollten: Was sagt die Schöpfung von Parasiten, die ihren Wirt von innen auffressen, über den Schöpfer aus?

Die Theologen können sich daher also auch drehen und wenden, wie sie wollen, eine Natur mit Viren, Bakterien und Parasiten, die nicht nur über Menschen, sondern auch über Tiere herfallen, lässt sich einfach nicht mit dem Glauben an einen fürsorgenden und barmherzigen Gott vereinbaren. Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass der Darwinismus den Theismus widerlegt hätte. Keineswegs! Es ist nach wie vor möglich, an einen Schöpfer zu glauben. Doch von diesem Schöpfer ließe sich vieles sagen – dass er gleichgültig, launisch, erbarmungslos, grausam oder gar zynisch sei –, nur eines mit Sicherheit nicht: dass er gütig sei!

Und dies war letztlich auch die Ansicht von Charles Darwin. Seine Idee der Evolution hat ihn nicht zu einem Atheisten, sondern lediglich zu einem Agnostiker werden lassen, der sich bis an sein Lebensende mit der Gottesfrage quälte.

Ein Grund für diese Qual wird im Film „Creation“ denn auch sehr eindringlich dargestellt: Seine Frau Emma, gespielt von Jennifer Conelly, liebt Charles so sehr, dass es ihr förmlich Schmerzen bereitet, sich vorzustellen, dass sie wegen seiner Zweifel im nächsten Leben vielleicht nicht zusammen sein sollten.     

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